Kaum ein Politiker ist innerhalb weniger Monate auf der ganzen Welt so berühmt geworden wie Giannis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister. Der Motorrad fahrende Ökonom mit seiner schönen Künstlerfrau aus der griechischen Oberschicht symbolisierte wie kein anderer den Anspruch seiner Partei Syriza, alles anders zu machen als die Vorgänger – obwohl sie am Ende doch nicht viel anders machte. Aber da war Varoufakis nicht mehr dabei. Vor knapp zwei Wochen trat er zurück.
Er ist jetzt also kein Minister mehr, aber ein Star. Die Kombination aus Intelligenz und Unverschämtheit macht ihn in den Augen mancher Griechen zum Helden – und trieb diejenigen, die mit ihm verhandeln mussten, in den Wahnsinn. Selten hat man in Europas Eliten solche Lästereien gehört. „Mit Varoufakis geht es nicht“, so lautete monatelang die Meinung ranghoher Notenbanker und Politiker. „Varoufakis muss weg.“
Wie dieser Mann über Griechenlands Krise denkt, hat er oft gesagt. Woran er aber glaubt, das hat er nie verständlicher gemacht als in einem Buch, das jetzt auf deutsch erschienen ist. Er hat es für seine Tochter Xenia geschrieben. Die zugrundeliegende These: Das herrschende Denken über Wirtschaft, das Ökonomen und auch Journalisten verbreiten, erfüllt eine Funktion, die früher manche der Religion zusprachen. Es ist Opium fürs Volk, damit es nicht aufbegehrt gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt.
Varoufakis will seine Tochter überzeugen, sich davon nicht einlullen zu lassen. Den Film „Matrix“ aus dem Jahr 1999 nutzt er als Analogie. Er ist für ihn eine Erzählung über den Kapitalismus. Dort bekommt der Held die Möglichkeit, zwei verschiedene Pillen zu schlucken. Die blaue lässt ihn weiter in dem Irrglauben, den die herrschenden Ideologen den Menschen einimpfen, damit sie still halten. Er ist zufrieden, aber dumm. Die rote Pille sorgt dafür, dass er die Wahrheit erfährt. Sein Buch, findet Varoufakis, ist die rote Pille. Die blauen Pillen werden von den anderen Ökonomen verabreicht. „Fürchte die Wirtschaftswissenschaftler und ihre blauen Pillen“, schreibt er seiner Tochter. Etwas platter heißt das: Alles Idioten, außer mir.
An dieser Stelle könnte man das Buch zur Seite legen. Denn das Schwarzweißdenken, das Varoufakis hier zeigt, taugt nicht als Basis für eine vernünftige Diskussion. Der frühere Minister will die anderen nicht widerlegen, diese Mühe macht er sich nicht. Er will überzeugen, indem er seine Gegner zu Bösewichten erklärt. Das ist ganz schön platt.
Ein genauerer Blick auf das Buch lohnt sich trotzdem. Manchem kann man durchaus zustimmen. Lesenswert ist besonders, was er übers Geld zu sagen hat. Kurz, verständlich und nachvollziehbar erklärt er, was für eine besondere Sache dieses Geld ist, wie es zu Krisen führt und wieso es seiner Meinung nach in Staatshand gehört. Da ist er übrigens weitgehend im Einklang mit der sogenannten „herrschenden Lehre“.
Im Nachwort wird er provokant. Dort wendet er sich der Ökonomie zu – dieser Wissenschaft, die uns angeblich einlullt und die er doch auch selbst vertritt. Er schreibt über den Irrglauben, dem viele Ökonomen anhängen, dass ihre Wissenschaft ähnlich der Physik sei. „Nonsens!“, schreibt Varoufakis. Die Ökonomie gleiche eher der Astrologie als der Astronomie. „Denn es ist nicht möglich, ein Labor zu errichten, in dem man Hypothesen nachprüfen könnte.“ Das gelte zum Beispiel für die Frage, wie es mit der griechischen Wirtschaft weitergegangen wäre, hätte Athen zu Krisenbeginn 2010 den Schuldendienst eingestellt.
Damit trifft Varoufakis den Kern des Griechenland-Problems. Niemand kann ganz sicher sagen, was passiert wäre, wenn Griechenland den Grexit beschlossen hätte – egal ob schon 2010 oder vor wenigen Wochen im Sommer 2015. Auch deshalb hat es wohl selbst die wilde Regierung Tsipras am Ende lieber nicht darauf ankommen lassen.
Nur bedeutet das nicht, dass die Ökonomie gar nichts sagen kann. Varoufakis vergleicht die Wirtschaftswissenschaftler mit den Philosophen, „die sich gegenseitig nicht davon überzeugen können, was der Sinn des Lebens ist, so logisch und weise sie auch argumentieren“. So einfach aber kann man es sich nicht machen. Der Beweis dafür, welchen Sinn das Leben hat, ist tatsächlich schwer zu erbringen. Wirtschaftliches Handeln hat dagegen Folgen, die man untersuchen kann. Es gibt eine jahrhundertelange Erfahrung mit der Marktwirtschaft – und Massen von Daten zu Dingen, die funktioniert haben oder gescheitert sind. Wer sagt, die Ökonomie könne gar keine vernünftigen Ratschläge geben, der ignoriert die Wirtschaftsgeschichte.
So haben viele Ökonomen schon lange vor der Einführung des Euro die strukturellen Probleme gesehen, die schließlich in die Krise führten. Viele haben gewarnt, auf der ganzen Welt. Man hat bloß nicht auf sie gehört.
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. So haben die Ökonomen die Finanzkrise 2008 nicht kommen sehen. Das war eine Katastrophe, und hier schimpft Varoufakis zu Recht. Mit dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, mit dem ihn eine Art Hassliebe verbindet, wird er sich in diesem Punkt gut verstanden haben. Es ist bekannt, dass Schäuble den Ökonomen misstraut oder sie sogar verachtet, gerade seit der Finanzkrise. Nun ist Schäuble allerdings Jurist. Varoufakis dagegen ist selbst Ökonom. Müsste er da nicht mehr bieten?
In dem Buch versucht er eine andere Sicht auf die Welt zu entwerfen, als sie viele Kollegen haben. Er erklärt, warum Arbeitskraft ein anderes Gut ist als Tomaten, er operiert mit anderen Begrifflichkeiten, nah an Marx. Vor allem aber entwirft er eine andere Deutung der Welt: Unternehmer treiben nicht die Wirtschaft an, sondern sie teilen als raffgierige Elite die Gewinne der Gesellschaft unfairerweise unter sich auf. Neu ist das nicht, sondern uralt und höchst populär.
Man kann das alles mit Interesse lesen, auch wenn man völlig anderer Meinung ist. Leider bleibt man am Ende aber ratlos zurück. Das größte Manko von Varoufakis‘ Buchs war auch das größte Manko seiner Politik: Er bietet keine Utopie, nur Rebellion. Was der Autor nicht will, ist nach der Lektüre sehr klar. Was er will, bleibt unklar: Sozialismus oder eine Art Staats-Kapitalismus? Griechenland als Teil eines europäischen Bundesstaats oder ein souveränes sozialistisches Griechenland?
Es ist wie in den Verhandlungen, als es immer wieder hieß: „Was will Varoufakis eigentlich? Wir verstehen ihn nicht.“ Oder wie in einem Telefongespräch, das die Autorin dieses Textes eine Woche vor seinem Rücktritt mit ihm führte. Auf die Frage, was er eigentlich ganz genau von Angela Merkel wolle, schwenkte er plötzlich vom Charmanten ins Schroffe um. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“, blaffte er.
Nach der Lektüre des Buchs liegt nahe: Er wusste wohl selbst nie ganz genau, was er wollte. Vielleicht war das gerade der Irrglaube seiner Gegner: dass er ein klares, realisierbares politisches Ziel hat. Varoufakis will gar nicht so sehr Griechenland gestalten, er will das Denken verändern, die Deutung der Krise erneuern. Was daraus folgt, sollen lieber andere beschließen. Da ist es nur konsequent, dass er zurückgetreten ist.
Giannis Varoufakis: „Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre“, Hanser Verlag, Juli 2015.