Ein Manifest aus der BIZ: Die Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems werden immer wieder unterschätzt, weil wir zu wenig über internationale Kapitalströme wissen. Das muss sich ändern. Es ist Zeit für eine neue Form der Finanzanalyse.
Als im Jahre 2007 in den Vereinigten Staaten eine Finanzkrise ausbrach, war bald darauf in Europa das Entsetzen groß. Denn einige Banken vom Alten Kontinent hatten auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt viel Geld verloren. Zahlreiche europäische Banken, auch solche ohne schwere Verluste, hatten plötzlich erhebliche Schwierigkeiten, kurzfristig aufgenommene Dollarkredite zu erneuern. Schließlich mussten die Notenbanken einspringen, um die Dollar-Nachfrage europäischer Geschäftsbanken zu befriedigen und die Banken damit vor existenziellen Schwierigkeiten zu bewahren. Andererseits war bekannt, dass asiatische Großanleger seit Jahren viel Geld auf dem amerikanischen Kapitalmarkt investiert hatten – der frühere Fed-Chef Ben Bernanke hatte hierfür den Begriff Ersparnisschwemme (“saving glut”) geprägt. Allerdings waren asiatische Banken in der amerikanischen Finanzkrise nicht in Schwierigkeiten geraten.
Damals lauteten häufig gestellte Fragen: Wie konnte das passieren? Wieso war nicht bekannt, wie hoch europäische Banken im Dollar engagiert waren? Der Grund ist einfach: In vielen Analysen wird für ein Land nur ein Saldo aus Kapitalausfuhren und Kapitaleinfuhren betrachtet. Um Risiken für die Finanzstabilität zu betrachten, ist es jedoch nach Ansicht von Ökonomen aus der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in einem als „Manifest“ bezeichneten Aufsatz wichtig, die absolute Höhe von grenzüberschreitenden finanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten zu betrachten.
Zwischen 2002 und 2007 haben europäische Banken ihr Geschäft mit Krediten und Kapitalanlagen in Dollar erheblich ausgeweitet (siehe Grafik). Ein Geschäftsmodell bestand darin, am amerikanischen Geldmarkt mit der Ausgabe kurzfristiger Wertpapiere Mittel aufzunehmen und diese Mittel in höher verzinsliche langfristige amerikanische Kapitalanlagen wie Hypothekenanleihen zu investieren. Der Saldo aus diesen Geschäften war gleich Null, weil sich Kapitalausfuhr und Kapitaleinfuhr ausgeglichen hatten. Deshalb fiel das erhebliche Volumen dieser Geschäfte bei der Betrachtung des Saldos der deutschen Kapitalbilanz nicht auf. Der heutige Chefökonom der BIZ, Hyun Song Shin, hat für dieses Phänomen den Begriff Bankenschwemme (“banking glut”) geprägt. Banken, die solche Geschäfte betrieben, besaßen kein Währungsrisiko. Wohl aber hatten sie ein Bonitäts- und ein Liquiditätsrisiko in ihren Büchern. Dies wurde sichtbar, als Hypothekenanleihen ausfielen und die Banken danach Schwierigkeiten hatten, neue kurzfristige Geldmarktpapiere zu plazieren.
Dies ist aber nur ein Beispiel für eine zu oberflächliche Betrachtung von Kapitalströmen. Ein zweites Problem entsteht, wenn Unternehmen sich nicht in ihren Heimatländern verschulden, sondern durch Tochtergesellschaften in fremden Ländern. Ein aktuelles Beispiel ist die Verschuldung vieler Unternehmen aus Schwellenländern durch die Ausgabe von Dollaranleihen, die von Großanlegern in den Industrienationen begierig gekauft worden sind. Nach Schätzungen der BIZ entfallen von den 9,6 Billionen Dollar Verbindlichkeiten, die Unternehmen außerhalb der Vereinigten Staaten in amerikanischer Währung unterhalten, etwa die Hälfte auf Anleihen.
Ein Blick auf nationale Kapitalverkehrsstatistiken von Schwellenländern kann trügerisch sein, wenn viele Dollarschulden von ansässigen Unternehmen von Tochtergesellschaften in London oder anderen internationalen Finanzzentren aufgenommen wurden. Diese hohen Dollarkredite mögen weniger problematisch sein, wenn ein Unternehmen aus seinem laufenden Geschäft Erlöse in Dollar bezieht. Fallen die Erlöse des Unternehmens jedoch in der Währung seines Heimatlandes an, können Schwierigkeiten mit der Rückzahlungen der Anleihen entstehen, wenn der Dollar stark gegenüber den Heimatwährungen von Unternehmen aus Schwellenländern aufwertet.
Ein ähnliches Phänomen ist aus der deutschen Währungsgeschichte der Zwischenkriegszeit bekannt, wie ein Aufsatz von Claudio Borio, Harold James und Hyun Song Shin dokumentiert. Nach der Inflation des Jahres 1923 waren die deutschen Banken sehr eigenkapitalschwach und damit nur eingeschränkt in der Lage, Kredite zu vergeben. Daraufhin nahmen deutsche Banken über Tochtergesellschaften in anderen europäischen Ländern erhebliche Kredite in Fremdwährung auf. Diese Kredite wurden von den deutschen Banken in ihren Bilanzen nicht gesondert ausgewiesen, sondern zusammen mit ihren heimischen Krediten in Reichsmark ausgewiesen. Das Phänomen war der Reichsbank zwar bekannt, aber nicht ihr Ausmaß. Dies führte dazu, dass erst in der Bankenkrise des Jahres 1931 das volle Ausmaß der Verschuldung in Fremdwährung deutlich wurde.
Solche Geschäfte betrieben nicht nur Banken, sondern auch Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Sie nahmen vor allem über Tochtergesellschaften in der Schweiz und in den Niederlanden Geld in fremder Währung auf, das sie anschließend nach Deutschland transferierten. Zum Teil handelte es sich um sogenannte „Carry Trades“, bei denen Geld zu niedrigen Zinsen im Ausland aufgenommen und zu höheren Zinsen in Deutschland bei Banken angelegt wurde. Als diese Gelder in der Krise des Jahres 1931 abgezogen wurden, trug dies zur Malaise der deutschen Banken bei.
Neben der Betrachtung von Brutto-Kapitalströmen und der Analyse internationaler Kreditaufnahmen durch Banken und Unternehmen ist ein Studium der internationalen Rolle nationaler Währungen notwendig, um rechtzeitig Krisenpotentiale zu erkennen. Dies gilt vor allem für die internationale Rolle des Dollar. Seit Jahren zeigen Arbeiten von Fachleuten, dass in Zeiten niedriger Zinsen in den Vereinigten Staaten und eines schwachen Dollar Kapitalanleger rund um den Globus ein risikoreicheres Verhalten an den Tag legen. Fachleute sprechen vom sogenannten Risikokanal der Geldpolitik (“risk-taking channel”). Dies sind Zeiten, in denen oft leichtfertig Kredite vergeben und hochriskante Anlagen erworben werden. Auch ist die Rolle der Fed als einer Zentralbank, deren Politik Nachfolger anzieht, bekannt. Viele Länder binden den Außenwert ihrer Währung gerne an den Dollar. Dies führt dazu, dass sie in Zeiten einer lockeren amerikanischen Geldpolitik ihre eigene Geldpolitik lockern. Dies kann Kapitalmarkttrends verstärken, erst in Form einer Hausse und dann, wenn die amerikanische Geldpolitik ihren Kurs verschärft, in Form von Baissen, die sogar die Gestalt von Finanzkrisen annehmen können.