Die Zahl der Demokratien auf dem Globus hat deutlich zugenommen. Das ist erfreulich. Aber in vielen Demokratien werden Bürgerrechte nicht respektiert. Das ist nicht erfreulich – aber auch nicht erstaunlich, sondern sehr gut erklärbar, wie Sharun Mukand und Dani Rodrik in einer neuen Arbeit zeigen.
“Die Überraschung ist nicht, dass liberale Demokratien selten sind, sondern dass sie überhaupt existieren.” (Mukand/Rodrik).
Wladimir Putin, Viktor Orbán oder Recep Erdogan – viele Zeitgenossen gerade aus Westeuropa und Nordamerika würden sich schwer tun, diese drei Herren als Musterdemokraten zu bezeichnen. Aber niemand kann bestreiten, dass sie Staaten repräsentieren, die als Demokratien angesehen werden. Folgt man Mukand/Rodrik in ihrer Argumentation, muss man sich über die Ausbreitung solcher Demokratien, die gelegentlich als “illiberale Demokratien” (Fareed Zakaria) bezeichnet werden, nicht wundern.
Wahldemokratien und liberale Demokratien
Eingangs unterscheiden die Autoren zwischen drei Arten von Rechten:
- Eigentumsrechte
- Politische Rechte (z.B. freie, geheime und faire Wahlen)
- Bürgerrechte (z.B. Gleichheit vor dem Gesetz)
Danach unterscheiden sie politische Regime nach der Ausstattung mit Rechten: “In Diktaturen werden nur Eigentumsrechte der Elite verteidigt. Klassische liberale Regime verteidigen Eigentumsrechte und Bürgerrechte, aber nicht notwendigerweise politische Rechte.” Und dann gelangen Mikand/Rodrik zu der für unser Thema wichtigsten Unterscheidung: “Wahldemokratien, die eine Mehrheit unter den heutigen Demokratien stellen, verteidigen Eigentumsrechte und Politische Rechte, aber keine Bürgerrechte. Liberale Demokratien verteidigen alle drei Arten von Rechten.”
Im nächsten Schritt stellen die Autoren die Frage, für welche Menschen die jeweiligen Rechte besonders wichtig sind. (Grundsätzlich kann natürlich jedes Recht für einen Menschen wichtig sein):
- Eigentumsrechte nützen vor allem der Elite, die Vermögen besitzt
- Politische Rechte werden von der Mehrheit einer Bevölkerung als wichtig angesehen, weil sie ihnen politische Mitsprache sichern
- Bürgerrechte sind vor allem für Gruppen von Minderheiten wichtig, die ansonsten von Macht oder Eigentumsrechten ausgeschlossen sind – zum Beispiel aus ethnischen, religiösen oder ideologischen Gründen.
Lehren aus der Geschichte
Schaut man sich die Entwicklung im Westen an, sieht man im Zusammenhang mit der Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts Demokratisierungsprozesse, die sich als Ergebnis von Verhandlungen zwischen der Elite und der sich zunehmend in Form von Parteien und anderen Massenorganisationen (z.B. Gewerkschaften) formierenden Mehrheit der Menschen beschreiben lassen: Die Elite, die im Feudalismus politische Macht und wirtschaftliche Vermögen besaß, gab durch Demokratisierung politische Macht an die Mehrheit ab, die im Gegenzug darauf verzichtete, die Elite in extremem Maße zu enteignen. Auf dieser Grundlage sind viele Demokratien entstanden.
Die Dominanz der Wahldemokratie
Tatsache ist allerdings, dass auf diesem Wege zwar Eigentumsrechte und Politische Rechte gesichert werden und somit Wahldemokratien entstehen – aber in der Regel keine liberalen Demokratien, da nach diesem Modell niemand die Bürgerrechte in die Verhandlungen einbringt. Das sei kein Wunder, schreiben Mukand/Rodrik, weil die besonders an Bürgerrechten interessierten Minderheiten ja gar nicht am Verhandlungstisch säßen: “Diese Minderheiten verfügen weder über wirtschaftliche Ressourcen (wie die Elite) noch über große Zahlen (wie die Mehrheit). Damit bringen sie nichts an den Verhandlungstisch mit und können damit auch nichts drohen. Die politische Logik der Demokratisierung erzwingt die Verteilung von Eigentumsrechten und Politischen Rechten, aber nicht von Bürgerrechten.” Die liberale Demokratie werde zu einem “seltenen Biest”.