Warum nur kommt die europäische Wirtschaft so langsam aus der Krise heraus? Olivier Blanchard und Larry Summers hatten schon vor 30 Jahren eine Idee, die damals auch bei deutschen Ökonomen für Furore sorgte. Jetzt haben sie sich die Sache noch einmal angeschaut – und sind zu einer beunruhigenden Antwort gelangt.
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen die europäischen Volkswirtschaften nur sehr langsam aus den Krisen der unruhigen siebziger Jahre heraus. Darüber setzte ein großes Rätselraten ein, ehe die beiden damals jungen Ökonomen Olivier Blanchard und Larry Summers ein Phänomen entdeckten, das sie “Hysterese” nannten: Gemeint ist eine Situation, in der eine wirtschaftliche Krise lange nachwirkt, obgleich ihre ursprüngliche Ursache längst keine Rolle mehr spielt. Das Phänomen der Hysterese wurde damals begierig auch von deutschen Ökonomen aufgenommen, unter anderem von Mitgliedern der “Kieler Schule” um ihr seinerzeitiges Haupt Herbert Giersch.
Wie erklärten Blanchard und Summers das damalige Verharren der europäischen Wirtschaft in einer Situation sehr hoher Arbeitslosigkeit? Es muss eine Ursache geben, die lange wirksam ist. Die beiden Ökonomen schauten vor allem auf die Insider/Outsider-Problematik auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Menschen in festen Arbeitsverhältnissen und oft mit gewerkschaftlicher Bindung erfreuten sich mancherlei Privilegien wie zum Beispiel hohen Mindestlöhnen (“Insider”), während die Arbeitslosen (“Outsider”) durch die von den Insidern aufgebauten Hürden nicht in den Arbeitsmarkt kamen. Nun stelle man sich eine Krise vor, die so schwer ist, dass auch ein Teil der bisherigen “Insider” ihren Job verliert. Nun ist die Zahl der “Insider” geringer als vorher und die Zahl der “Outsider” größer als vorher – die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, aber die “Outsider” finden nach wie vor keinen Weg in den Arbeitsmarkt zurück. Das war in der Tat eine, wenn auch vielleicht nicht die einzige, plausible Erklärung für die schwache Entwicklung der europäischen Wirtschaft in den achtziger Jahren.
Aktuell lässt sich nicht bestreiten, dass Europa wieder einmal länger in einer Krise verharrt als zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Könnte wiederum Hysterese eine Rolle spielen? Oder könnte Europa gar in einer “Superhysterese” gefangen sein? Der Ausdruck stammt von dem amerikanischen Ökonomen Lawrence Ball und beschreibt eine Situation, in der eine Rezession nicht nur wie eine “normale” Hysterese lange nachwirkt, sondern in der das anschließende Wirtschaftswachstum schwächer ist als vor der Rezession.
Blanchard und Summers haben mit Eugenio Cerutti in einer neuen Arbeit einen Blick auf eine Vielzahl von Rezessionen in 23 Ländern geworfen, um nach Mustern Ausschau zu halten.Tatsächlich finden sich eine Vielzahl von Rezessionen, die mit einer “normalen” Hysterese erklärt werden könnten. Als Ursachen kommen prinzipiell in Frage, auch wenn sie in der empirischen Untersuchung nicht schlüssig nachweisbar waren:
- Nach einer langen Rezession verlieren viele Arbeitslose ihre Qualifikation und finden nicht mehr in einen Job.
- Lange Rezessionen beeinflussen Regeln am Arbeitsmarkt, die den Wiedereinstieg für Arbeitslose erschweren.
- Rückläufige Investitionen sorgen für einen zumindest vorübergehend niedrigeren Kapitalstock
- Rückläufige Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Rezession wirken sich nachteilig auf die Produktivität aus
Immerhin lassen sich Gründe für Hysterese auch in unserer Zeit finden. Aber nach Ansicht der Autoren ist es sehr viel schwieriger, Gründe für eine “Superhysterese” zu entdecken: “Permanently lower output growth requires permanently lower total factor productivity growth; the recession would have to lead to changes in behavior or in institutions, which lead to permanently lower research and development or to permanently lower reallocation. These may range from increased legal or self-imposed restrictions on risk-taking by financial institutions, to changes in taxation discouraging entreprenuership.”
Die beunruhigende Schlussfolgerung von Blanchard, Cerutti und Summers ist, dass Hysterese oder gar Superhysterese nur eine mögliche Antwort für die Wirtschaftsschwäche seit der Krise ist. Es kommen aus ihrer Sicht auch zwei andere Erklärungen in Frage. Zum einen kann die Rezession und anschließende Wirtschaftsschwäche auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sein. In Frage kommt beispielsweise eine Finanzkrise, die erst eine Rezession erzeugt und daraufhin zu so starken Regulierungen des Finanzsektors Anlass gibt, dass die Wirtschaft nicht mehr richtig ins Laufen kommt. Schließlich ist auch eine “umgekehrte Kausalität” denkbar: Demnach gelangen Konsumenten und Unternehmer gegen Ende eines Booms zur Erkenntnis, dass das Wirtschaftswachstum nicht plausibel ist. Dies kann eine Rezession auslösen und das nachfolgend langsame Wachstum ist nicht anderes als das Ergebnis einer korrekten Antizipation von Konsumenten und Unternehmern vor der Krise.
Nur: Wenn die Ursache des langsamen Wirtschaftswachstums in Europa nicht klar definierbar ist, lässt sich auch nicht klar bestimmen, was die Wirtschafts- und Geldpolitik unternehmen soll. Das scheint auch in derzeit in Europa so zu sein.