Der amerikanische Nobelpreisträger Douglass North ist im Alter von 95 Jahren verstorben. North hat nicht nur die Art und Weise, wie Wirtschaftsgeschichte betrieben wird, radikal verändert. Seine Motivation war die Kernfrage, die noch heute viele Ökonomen beschäftigt: Warum sind manche Gesellschaften arm und andere reich?
Am Ende eines Interviews mit der Publizistin Karen Horn sagte North vor einigen Jahren Sätze, die wenige Ökonomen gerne hören wollen, aber viele Ökonomen hören sollten: “Economics is a very narrow field that, by itself, I don’t think is very interesting. It asks how people, given some utility function, can always improve their lot. That’s not very interesting. It’s only a piece of the action.”
Aber worum geht es dann? North fuhr fort: “The real action gets you to worry about social norms, how belief systems work etc. It gets you to a complex world.” Wer einen Blick in diese komplexe Welt werfen will, kann dies anhand von Norths letztem Buch tun, einer bravourösen Arbeit mit Barry Weingast und John Wallis, die mehr ein Forschungsprogramm beschreibt als letztinstanzliche Antworten bietet.
Douglass North (1920 bis 2015) war in seiner Jugend einige Jahre Marxist etwa in dem Sinne, wie Joseph Schumpeter Marx verehrte: Er meinte, dass Marx mit der Suche nach den Bestimmungsgründen des dynamischen Kapitalismus die richtigen Fragen stellte. Aber er fand die marxistische Analyse unbrauchbar und die politischen Konsequenzen unakzeptabel. Später lernte North beinharte neoklassische Ökonomik und ökonometrische Verfahren. Hier entdeckte er “Werkzeuge”, mit denen sich die bislang überwiegend deskriptive Wirtschaftsgeschichte revolutionieren ließ. Aber er empfand den statischen Charakter der Neoklassik bald als hinderlich zur Erklärung komplizerter wirtschaftshistorischer Prozesse.
Wer North verstehen will, muss die Prägung durch Marx und die Neoklassik im Verein mit einem ungebundenen Charakter und einem selbstbewussten Wesen sehen. Folgerichtig machte North seine Karriere auch nicht an amerikanischen Elite-Universitäten. Seine wichtigsten Stationen waren die University of Washington in Seattle und die Washington University in St. Louis. Wer es mit solchen Adressen zum Nobelpreisträger bringt, muss schon außerordentlich überzeugend sein.
Den Nobelpreis erhielt North 1993 zusammen mit Robert Fogel “for having renewed research in economic history by applying economic theory and quantitative methods in order to explain economic and institutional change”, wie es in der offiziellen Begründung hieß. (Seine Nobelpreisvorlesung ist hier.) Damit waren gerade auch Arbeiten Norths aus seinen jüngeren Jahren gemeint, als er maßgeblich die Wandlung der Wirtschaftsgeschichte in eine quantitative Wissenschaft (“Cliometrie”) vorantrieb und damit das Interesse quantitativ arbeitender Ökonomen an dieser Disziplin wecken konnte. “The Economic Growth of the United States 1790-1860” (1961) und “Sources of productivity change in ocean shipping 1600-1850” (1968) sind zwei wichtige Arbeiten Norths aus dieser Zeit. Sie sind neoklassisch geprägt; North sagte später, dies habe funktioniert, weil die Vereinigten Staaten immer eine Marktwirtschaft gewesen seien.
Dann begann North, die europäische Wirtschaftsgeschichte zu studieren, und hier fühlte er sich von der Neoklassik verlassen. Denn Europa war keine homogene Marktwirtschaft, sondern eine Ansammlung von Staaten mit sehr unterschiedlicher Wirtschaftskraft. North erkannte, dass ihm traditionelle Theorien hier wenig helfen würden; Inspiration fand er in Arbeiten, die man heute als moderne Institutionenökonomik bezeichnen würde. In der zweiten Phase seiner Karriere wurde North zu einem institutionenökonomisch geprägten Erforscher der Wirtschaftsgeschichte; das vielleicht bekannteste Buch aus dieser Zeit ist das zusammen mit Robert Thomas geschriebene Werk “The Rise of the Western World: A New Economic History” (1973). North ging weit darüber hinaus, einfach institutionenökonomische Erkenntnisse auf die Geschichte anzuwenden. Er fragte, warum es so unterschiedliche Institutionensysteme in Ländern gibt und beschäftigte sich mit der Frage, welche Rolle Werte und Glaubenssysteme spielen. Etwas pathetisch ausgedrückt: North wurde im Laufe der Zeit von einem Ökonom zu einem Sozialwissenschaftler.
Dies erklärt auch die Popularität Norths unter deutschen Ordoliberalen. Die Einheit der Sozialwissenschaften ist eine Art deutsches Forschungsprogramm gewesen, das mindestens bis zur Historischen Schule zurück reicht und den Ordoliberalismus zumindest in seiner Anfangszeit ebenfalls geprägt hatte. Im Grunde hat North jenseits des Atlantiks etwas geleistet, was diesseits des Atlantiks manche gerne geleistet hätten.
Abschließend sei eine Frage gestattet: Welche Karrierechancen hätte ein erfindungsreicher, aber auch nicht immer angepasster Ökonom wie Douglass North heute in einer Zeit, in der mit wichtiger Miene Rankings von Universitäten und Fachzeitschriften herumgetragen werden und die Qualität eines Ökonomen häufig an der Zahl von Publikationen in hochklassigen Journals gemessen wird – ohne dass die Publikationen zwingend gelesen werden? Andererseits war North ein Ökonom, wie man ihn sich wünschen würde: Er beherrschte Theorie, Empirie, Institutionen und Geschichte. Das können nicht viele von sich behaupten.