Das Geschehen an den internationalen Finanzmärkten ist für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wichtig. Aber die Rolle der Finanzmärkte für die Eurokrise bleibt in der Fachwelt umstritten. Hier sind drei Erklärungen:
1. Die Konsens-Sicht
Vor einigen Monaten haben Ökonomen am Londoner Center for Economic Policy Research (CEPR) in London unter Leitung von Richard Baldwin und Francesco Giavazzi eine Analyse der Euro-Krise vorgenommen, die seither von zahlreichen anderen Ökonomen aus unterschiedlichen Ländern als eine „Konsens-Sicht“ akzeptiert worden ist. Dies heißt aber nicht, dass ihr alle Ökonomen zustimmen. Die Kernthese dieser Sichtweise lautet: Die Eurokrise ist im Kern keine Staatsschuldenkrise, sondern eine „Krise des plötzlichen Halts („Sudden Stop“). Dieser Krisentyp wird seit Jahrzehnten vor allem mit Schwellenländern in Verbindung gebracht.
Am Anfang stehen Kapitalströme aus reichen in ärmere Länder, mit deren Hilfe Anleger aus den reicheren Ländern von wirtschaftlichen Aufholprozessen in den ärmeren Ländern profitieren wollen. Allerdings zeigt sich oft, dass in den ärmeren Ländern das Kapital nicht zwingend ertragreich investiert wird und daher viele Kreditnehmer irgendwann zahlungsunfähig zu werden drohen. Sobald die Kapitalgeber aus den reichen Ländern dies bemerken, schicken sie kein Kapital mehr in die ärmeren Länder („Sudden Stop“), sondern versuchen, ihr bereits investiertes Kapital zurückzuholen. Dies geht mit oft existentiellen Gefahren für die Banken in den ärmeren Ländern einher.
Nach dem Verständnis der „Konsens-Sicht“ ist genau dies nach der Gründung des Euros geschehen. Viele deutsche Sparer, die ihr Geld heimischen Banken und Sparkassen anvertraut hatten, dürften nicht gewusst haben, dass deutsche Banken auf der Suche nach Renditen in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends viel Geld in die Euro-Peripherie investiert hatten, allerdings ohne oft darauf zu achten, was mit dem Geld geschah.
„Keine Regierung war systematisch in diese grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen involviert“, schreiben Baldwin und Giavazzi. Spätere Krisenländer wie Irland und Spanien wiesen bei Ausbruch der Krise eine im Vergleich niedrige Staatsverschuldung aus. In der Krise stieg dann ihrer Staatsverschuldung stark, weil sie private Banken zu retten versuchten. Verschärft worden ist die Krise aus Sicht der „Konsens-Sicht“ dann durch eine schlechte Politik, die anfangs die aus den Kapitalströmen entstandenen Ungleichgewichte zuließ und danach falsch reagierte: „Die gesamte Situation wurde durch ein armseliges Krisenmanagement erheblich verschlimmert.“
2. Die nuancierte Sicht
Nun haben vier Mitglieder des deutschen Sachverständigenrats ihre Perspektive in einem Beitrag für das CEPR geschildert. Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland sprechen von einer „nuancierten Sicht“, die sich nicht in einem frontalen Gegensatz zur „Konsens-Sicht“ befinde, aber sich davon in „subtilen, gleichwohl wichtigen Aspekten“ unterscheide. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die vier Ökonomen in deutscher Tradition stärker institutionelle Aspekte betonen und weniger Gewicht auf die privatwirtschaftlichen Prozesse an den Finanzmärkten als Krisenursache legen.
Da Kapitalströme ebenso wie Güterströme Marktergebnisse seien, ließen sich die Kapitalströme im Jahrzehnt vor dem Ausbruch der Krise nicht als die „wahren Schuldigen“ bezeichnen, heißt es. Während die „Konsens-Sicht“ die Krisenursache vor allem in einem Versagen der Finanzmarktteilnehmer sieht – die Kapitalgeber waren blind für die Fehlinvestitionen der Kapitalnehmer –, betonen die vier deutschen Ökonomen eine starke Verantwortung der Staaten in diesem Prozess: In Griechenland und Portugal hätten sich auch die Staaten während des Booms hoch verschuldet und diese Mittel oft schlecht verwendet. Und die Exzesse der privaten Verschuldung in Spanien und Irland seien durch eine „unzureichende Regulierung und Aufsicht“ der Banken begünstigt worden. Zusammen mit einem „Fehlen wirtschaftlicher und fiskalischer Disziplin“, begleitet durch „dysfunktionale Sanktionsmechanismen“, und angesichts des Fehlens eines „glaubwürdigen Mechanismus für den Umgang mit Problemen aus Bank- und Staatsschulden“ ergibt sich eine von der „Konsens-Sicht“ abweichende Analyse.
3. Die Lehrbuch-Sicht
Im Januar 2014 fand auf der Jahrestagung der Vereinigung amerikanischer Ökonomen eine Veranstaltung zum Thema statt: „Wie sollte künftig die Euro-Krise in den Lehrbüchern beschrieben werden?“ Eine Arbeit, die in FAZIT unter dem Titel „Ein Crashkurs für die Euro-Krise“ seinerzeit ausführlich behandelt wurde , stammt von den in Amerika lehrenden europäischen Ökonomen Markus Brunnermeier und Ricardo Reis. Sie versuchen nicht, eine umfassende Erklärung der Euro-Krise zu liefern, sondern den Blick auf Prozesse an den Finanzmärkten zu lenken, die in konventionellen Darstellungen der Krise häufig unterbelichtet geblieben sind. Brunnermeier und Reis halten die konventionellen Schilderungen nicht für falsch, aber für unvollständig.
Dazu zählt ein genauerer Blick auf die Entwicklung des modernen Bankgeschäfts. Nicht nur in der Europäischen Währungsunion hatten etwa ab der Jahrtausendwende vor allem europäische Großbanken begonnen, in großem Stil Kapital rund um den Globus zu lenken. Ein in den vergangenen Jahren häufig beschriebener Mechanismus war die Aufnahme billigen Geldes in den Vereinigten Staaten, das rund um den Globus investiert wurde. Wichtig ist, dass in diesen Jahren der Anteil der meist langfristig zur Verfügung stehenden Einlagen privater Kunden in den Bankbilanzen geringer wurde. Stattdessen wuchs die Abhängigkeit der Banken von kurzfristigen Finanzierungen durch Großanleger, die immer wieder erneuert werden mussten. Damit wurden die Banken anfälliger für plötzliche Kapitalabzüge: Nach dem Ausbruch der Finanzkrise zunächst in Amerika verloren diese Großanleger das Vertrauen in die Banken, was diese in schwere Nöte brachte. Ähnliches wiederholte sich wenige Jahre später in der Euro-Krise.
Hier nun können von traditionellen Ökonomen oft nicht gesehene oder unterschätzte Selbstverstärkungseffekte an Finanzmärkten eine verheerende Rolle für die Stabilität der Banken spielen. Diese Selbstverstärkungseffekte können zum Beispiel auftreten, wenn in Not geratene Banken in aller Eile und zu jedem Preis Kapitalanlagen verkaufen müssen (“Fire Sales”) und damit deren Preise in den Keller treiben. Eine Baisse von Preisen an Finanzmärkten schmälert den Wert der Anlagen auch jener Banken, die zunächst noch nicht verkaufen mussten. Falls auch diese Banken in einer zweiten Runde Notverkäufe vornehmen müssen, setzt sich die Abwärtsspirale fort.
Eigene Akzente setzen Brunnermeier und Reis auch mit der spieltheoretischen Analyse des nachfolgenden Verhaltens von Regierungen als „Feiglingsspiel“, um die Verluste aus der Krise auf andere abzuwälzen: „Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Verluste zu verteilen. Im Falle eines Schuldenschnitts zahlen die Anleihegläubiger, im Falle von Bail-outs die Steuerzahler (wobei im Falle der Europäischen Währungsunion auch festzulegen bliebe, in welchen Ländern die Steuerzahler herangezogen würden) und im Falle von höherer Inflation und Niedrigzinsen zahlen die Sparer die Rechnung. In dieser Situation gibt es viele Beteiligte, die versuchen werden, die Last, wenn möglich, auf andere abzuschieben.“