Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die lieben Nachbarn

Niemand will der letzte Weiße in einem schwarzen Viertel sein. Mit Rassismus hat das nichts zu tun. Von Jürgen Kaube

Bei einem Abendessen sind genauso viele Frauen wie Männer anwesend, sieben Paare. Beide Geschlechter werden abwechselnd gesetzt, sechs an jeder Tischseite, an den Enden jeweils eine Person. Im Grunde ist damit das Höchstmaß an möglicher Mischung der Geschlechter verwirklicht und damit die geringste Segregation. Dennoch haben zehn Personen jeweils zwei Nachbarn des anderen Geschlechts. Wer also seine Wahrnehmung nicht auf den ganzen Tisch oder auf seine Gegenüber ausdehnt, sondern nur mit seinen Nachbarn zur Linken und Rechten spricht, mag mit dem Eindruck nach Hause gehen, dass mehr Frauen oder mehr Männer da waren.

Zuletzt war viel die Rede davon, wer gern oder ungern Nachbar von wem wäre. Für die moralische Betrachtung spielte es dabei natürlich keine Rolle, ob jemand überhaupt in die Verlegenheit oder den Genuss einer bestimmten Nachbarschaft kommt. Man gibt ziemlich leicht Urteile über Situationen ab, in die man nie kommt. Wie stark Nachbarschaften in deutschen Wohnquartieren segregiert oder gemischt sind und warum das so ist, wurde ebenfalls nicht gefragt. Von keiner Seite. Geprüft wurde nur die reine Gesinnung, unabhängig von empirischen Gelegenheiten, gewissermaßen also die Wunschnachbarschaft.

Doch selbst das geschah ohne jeden Sinn für den Stellenwert solcher Wünsche. Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Thomas C. Schelling, der im April dieses Jahres 95 Jahre alt geworden ist, hat demgegenüber schon 1978 faszinierende Analysen zu Nachbarschaftsmustern vorgelegt. Sein Argument war, dass es zu Segregationen beispielsweise zwischen Schwarzen und Weißen kommen kann, die keines der beteiligten Individuen ausdrücklich gewünscht hat. Wer wen zum Nachbarn hat, entspreche nicht nur individuellen Entscheidungen, sondern deren unbeabsichtigten Folgen.

In seinen Modellüberlegungen hat Schelling dabei ganz bewusst vom Zusammenhang zwischen Hautfarbe und Einkommen, Bildung und Bekanntschaft abgesehen. Klarerweise, schreibt er, führe selbst eine “farbenblinde” Wohnortwahl dazu, dass Schwarze und Weiße in amerikanischen Städten nicht zufallsverteilt wohnen. Auch wer nur einen Standort wählt, wählt damit implizit Nachbarn mit bestimmten Merkmalen: solche, die die ortsüblichen Mieten bezahlen können, solche die ebenfalls eine nahegelegene gute Schule schätzen, solche, die es ebenfalls nicht weit zu ihrem Arbeitsplatz haben wollen.

Schelling konzentrierte sich auf Wohnortpräferenzen, die nur zwischen “weiß” und “schwarz” unterscheiden. Schon hier hat man es mit ganz unterschiedlichen Wünschen zu tun. Es gebe Weiße, so Schelling, die lieber unter Weißen wohnten, und Schwarze, die lieber unter Schwarzen wohnten. Aber es gebe auch Schwarze, die lieber unter Weißen wohnten oder denen es egal sei. Und Weiße, denen es egal sei, die aber ungern in der Minderheit seien.

Wenn eine der beiden “Gruppen” für sich einen Schwellenwert definiere, sagen wir: 25 Prozent der eigenen Gruppe, dessen Unterschreiten sie zum Wegzug motiviert, dann sind alle Mischungen von einem Viertel bis zu drei Vierteln stabil. Wird davon abgewichen, beginnt ein Prozess, der bei völliger “farblicher” Homogenität des Quartiers endet. Ziehen die dabei Abwandernden in ein Viertel, in dem sie dadurch eine klare Mehrheit herbeiführen, setzen sie dort denselben Prozess in Gang.

Um solche Prozesse zu veranschaulichen, schlägt Schelling vor, dass seine Leser einSchachbrett nehmen und darauf 10- sowie 5-Cent-Stücke verteilen. Zehner und Fünfer stehen für Mitglieder einer Gruppe mit gleichem Merkmal: Männer und Frauen, Raucher und Nichtraucher, Hundehalter und Katzenbesitzer, Einheimische und Migranten. Man kann sie zufällig verteilen oder in Mustern, man kann gleich viele Fünfer und Zehner nehmen oder eine Mehrheit zulassen.

Und man kann den Fünfern und Zehnern Präferenzen zuordnen. Beispielsweise: Jeder Fünfer will mindestens zwei andere Fünfer in seiner unmittelbaren Nachbarschaft von acht Feldern haben, jeder Zehner bleibt nur, wenn ein Drittel der Nachbarn auch aus Zehnern besteht – und zieht andernfalls weg oder zum nächsten freien Feld, das seinen Kriterien entspricht.

Verteilt man beispielsweise die Münzen abwechselnd so, dass alle Felder außer den Ecken des Bretts besetzt sind, dann hat man bei einer Präferenz aller, nicht in der Minderheit zu sein, eine stabile Situation. Werden jetzt zufällig einige Münzen entfernt und einige, aber nicht alle Lücken zufällig wieder besetzt, entstehen Ungleichgewichte. Manche finden sich jetzt in einer Lage, die sie nicht wünschen. Zugleich aber verändern sie mit ihrem Wegzug die Lage vieler anderer. Eventuell kommt es zu Kettenreaktionen.

Das Ergebnis in vielen Fällen: Die Segregation ist viel extremer als die Wünsche der Individuen. Könnte man die Einzelnen dazu bewegen, von ihrer Entscheidungsregel – “in der Minderheit zu sein ist nicht hinnehmbar” – nur ein wenig abzuweichen und zu bleiben, auch wenn der Schwellenwert ein wenig unterschritten ist, würde eine stabile und für alle akzeptable Lage entstehen.

Wieder anders sieht es aus, wenn “Nachbarschaft” für die Betroffenen nicht mehr ihre unmittelbare Umgebung bedeutet, sondern das gesamte Schachbrett. Wenn also das Verhältnis von Fünfern und Zehnern im ganzen Wohnquartier ausschlaggebend ist, nicht die konkrete Verteilung. Das ist insofern realistisch, als solche Zahlen – “Ausländeranteil” – regelmäßig durch die Medien wandern und in das Bild eingehen, das sich die Leute von einem Viertel oder sogar von ganzen Städten machen. Schelling spricht hier von einem Maß der Toleranz, wenn jemand beispielsweise bereit ist, in eine Umgebung zu ziehen, in der er eine Minderheit darstellt.

In diesem Modell hängt die entstehende Mischung ganz davon ab, ob die Toleranzwerte beider Gruppen zueinander passen. Denn jeder Zuzug oder Wegzug wirkt sich nun auf die Lageeinschätzung aller aus, der Hunde- wie der Katzenbesitzer. Und da man nicht annehmen kann, dass die Toleranz gleich verteilt ist, strapaziert jeder Wegzug aus einer Gruppe die jeweils Nächstintoleranten, wodurch es wieder zu einem kumulativen Prozess kommen kann, der bei einer homogenen Besiedelung endet.

Die Existenz eines gemischten Gleichgewichts, so Schelling in anderen Worten, garantiert nicht, dass es erreicht wird. Denn es ist prekär und konkurriert mit dem Gleichgewicht, das bei strikter Separation existiert. Schelling deutet an, dass dieser Umstand nach einer kollektiven Verständigung darüber ruft, was eine gute Mischung wäre, und nach konzertierter Aktion, also Quartiersmanagement.

 


 

Thomas C. Schelling “Dynamic Models of Segregation”, Journal of Mathematical Sociology 1 (1971) und “Sorting and Mixing: Race and Sex”, in: ders., Micromotives and Macrobehavior, New York 1978

 

Dieser Beitrag ist am 19. Juni 2016 in der Rubrik “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.