Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Fluch der sicheren Kapitalanlage

Am Freitag, dem 1. Juli, erreichte die Ära negativer Zinsen einen neuen Höhepunkt: Sogar die Rendite der fünfzigjährigen Schweizer Staatsanleihen fiel unter Null. Nach Schätzungen dürften in der Welt Anleihen im Gesamtwert von rund 9 Billionen Euro negative Renditen ausweisen. Wer kauft solche Anleihen, wenn die Renditen so niedrig sind, fragen viele Anleger kopfschüttelnd. Die Frage ist falsch gestellt. Denn die Renditen sind so niedrig, weil die Anleger solche Anleihen kaufen wollen.

Bundesanleihen und Staatsanleihen zählen in der Terminologie der Finanzmärkte zu den sicheren Kapitalanlagen, ebenso Staatsanleihen aus Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, den nordeuropäischen Ländern oder Australien. Damit sind Kapitalanlagen mit mutmaßlich nur geringen Wertschwankungen1) gemeint, deren Solidität auch ohne Finanzanalyse sofort einsichtig ist. In einer Welt ohne Inflation wird auch Bargeld eine sichere Anlage betrachtet – und Bankeinlagen, vor allem, wenn eine staatliche Garantie für sie existiert. Wohlgemerkt: Es existiert keine allgemein akzeptierte Definition einer sicheren Kapitalanlage und ein Problem mit erheblichen ökonomischen Folgen entsteht, wenn sich scheinbar sichere Anlagen plötzlich als unsicher erweisen. Brunnermeier/Haddad sprechen von einer “Safe Asset Tautology”: Sichere Anlagen sind Anlagen, die als sicher betrachtet werden.

Ein Zeichen unserer Zeit ist, dass die Nachfrage nach sicheren Kapitalanlagen wächst, aber ihr Angebot nicht schnell genug zunimmt. Das Ergebnis sind steigende Preise für diese Kapitalanlagen, die sich im Falle von Anleihen als sinkende Renditen niederschlagen. Die Nachfrage nach sicheren Anlagen vor allem durch internationale Kapitalanleger ist ein wesentlicher und bis heute häufig unterschätzter Grund, warum die Renditen von Bundesanleihen in den vergangenen Jahren so stark gefallen und heute negativ sind. Und es sieht so aus, als würde sich daran wenig ändern.

Ein wichtiger Grund für das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage für sichere Kapitalanlagen ist das Entstehen einer breiten Schicht von Sparern in Schwellenländern, darunter nicht zuletzt China. Viele dieser Anleger suchen Sicherheit, finden sie aber in ihren Heimatländern nicht. Daher stürzen sie – oder zwischengeschaltete Finanzhäuser – auf sichere Kapitalanlagen in Industrienationen. Der starken Nachfrage steht ein zu kleines Angebot entgegen, weil seit Ausbruch der Finanzkrise die Zahl sehr solider Schuldner abgenommen hat. Dies gilt in erster Linie für private Schuldner.

Die Illusion privater sicherer Anlagen

Der amerikanische Ökonom Gary Gorton hat in einer lehrreichen Arbeit gezeigt, dass man nicht wenige Finanzkrisen als eine Art “Run” auf – meist private – Kapitalanlagen verstehen kann, die in der Vergangenheit irrtümlich als sicher galten. Ein schönes Beispiel ist die jüngste Finanzkrise. In den Jahren bis 2007 existierte eine sehr starke Nachfrage aus Asien und aus Europa für sichere amerikanische Kapitalanlagen. Die Käufer stürzten sich zunächst auf Staatsanleihen und Anleihen, die vom Staat garantiert waren, mit dem Ergebnis, dass deren Renditen sanken.

Daraufhin kam die Wall Street auch die Idee, private Anleihen mit “AAA”-Rating zu produzieren, die man den Ausländern verkaufen konnte. Die Grundlage dieser scheinbar sicheren Anlagen waren unter anderem Hypothekenkredite an arme Bürger, die alles andere als solide waren. Als die Täuschung aufflog, wurden die scheinbar sicheren “AAA”-Anlagen hektisch und mit großen Verlusten verkauft. Man kann dies als eine Art “Run” bezeichnen. Die europäischen Banken, die den Kauf dieser langfristigen Papiere durch die Ausgabe kurzfristiger Wertpapiere refinanziert hatten, gerieten in Schwierigkeiten, weil die amerikanischen Geldmarktfonds sich weigerten, weiterhin solche Papiere zu nehmen. In der Folge kam es zu einer Art “Run” auf amerikanische Geldmarktfonds – ein wesentliches Element der Finanzkrise der Jahre 2007/2008. Jede Krise privater vermeintlich sicherer Kapitalanlagen stärkt die Nachfrage nach staatlichen sicheren Kapitalanlagen.

Ein Universum wird kleiner

Spätestens mit dem Ausbruch der Eurokrise ist die Zahl der Emittenten sicherer staatlicher Kapitalanlagen geringer geworden, da es zu zahlreichen deutlichen Herabstufungen der Bonität von Staaten gekommen ist. Umso stärker richtet sich das Interesse auf die Staatsanleihen von Staaten wie Deutschland. Da angesichts der guten Haushaltslage das Angebot an neuen Bundespapieren rückläufig ist, steigen die Preise besonders stark – mit dem Ergebnis stark fallender Renditen. Mit Programmen zum Ankauf von Staatsanleihen tragen Notenbanken zur Knappheit sicherer Anlagen zusätzlich bei. Dies gilt aktuell für die EZB und die Bank von Japan; vor wenigen Jahren hatten auch die Fed und die Bank of England große Mengen Anleihen angehäuft.

Dass der in erster Linie sicherheitsorientierte Anleger in solchen Papieren keine Rendite mehr bekommt, sondern sogar draufzahlen muss, schlägt ihn nicht zwingend in die Flucht. Denn er betrachtet die sichere Kapitalanlage als eine Art Versicherung gegen Risiken, die er in anderen Kapitalanlagen tragen müsste. Ökonomen sprechen von einer Art „Annehmlichkeitsprämie“, die Anleger bereit sind, für den Besitz solcher Papiere zu zahlen. Nach Schätzungen der Ökonomen Arvind Krishnamurthy und Annette Vissing-Jorgenson dürfte diese Prämie für amerikanische Staatsanleihen in den vergangenen Jahrzehnten 0,73 Prozentpunkte betragen haben dürfte. Mit anderen Worten: Ohne den Status der sicheren Kapitalanlage rentierten die amerikanischen Staatsanleihen fast einen Prozentpunkt höher. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch: Großanleger können solche Papiere als Sicherheit für andere Finanzgeschäfte hinterlegen – auch in dieser Hinsicht stiften sie einen Nutzen.

Die Fähigkeit, eine in den Augen internationaler Kapitalanleger sichere Anlage zu produzieren, kann als Auszeichnung verstanden werden. Und sie hat erhebliche Vorteile: Wenn Ausländer die Anleihen eines Landes zu sehr niedrigen Renditen kaufen, dafür aber Inländer im Ausland Anlagen mit höheren Renditen erwerben, erhöht sich der Wohlstand eines Volkes. Die französische Ökonomin Hélène Rey hat diese Extrarendite für die Vereinigten Staaten bei einer langfristigen Betrachtung auf durchschnittlich 2 Prozent im Jahr geschätzt. Der frühere französische Staatspräsident Valéry Giscard d‘Estaing sprach von einem „exorbitanten Privileg“. Im Prinzip gelten diese Vorteile auch für kleinere Länder als die Vereinigten Staaten, darunter Deutschland und die Schweiz.

Allerdings besitzt die Produktion einer sicheren Anlage auch Nachteile, und die sind bei kleineren Ländern deutlicher erkennbar als bei den Vereinigten Staaten. Für Deutschland und die Schweiz haben dies Rey und ihr Kollege Pierre-Olivier Gourinchas in diesen Tagen auf einer Konferenz der EZB im portugiesischen Sintra gezeigt. Die Schlussfolgerungen für Deutschland gelten auch für andere Euro-Länder wie die Niederlande oder Frankreich.

Kosten in der Krise

Kosten eines Herstellers sicherer Kapitalanlagen zeigen sich in einer Krise – dann wird aus dem “exorbitanten Privileg” eine “exorbitante Verpflichtung”. Länder, die sichere Anlagen herstellen, haben im internationalen Vergleich niedrige Zinsen, weil ihre Anleihen zu einem guten Teil aus Sicherheitsgründen von Ausländern gekauft werden. Dies macht inländische Anlagen aber für heimische Sparer wenig interessant, die ihrerseits im Ausland auf Renditesuche gehen. Dies ist ein Grund,warum deutsche Banken und andere Großanleger vor der Krise Geld unter anderem am amerikanischen und am spanischen Anleihemarkt investiert haben. Sie wollten von höheren Renditen profitieren, hatten aber die Risiken unterschätzt. Und die Renditeaufschläge gegenüber deutschen Anlagen wurden in der Euro-Peripherie immer kleiner.

In einer Krise fallen im Ausland hohe Vermögensverluste für die Bewohner eines Landes an, das sichere Anlagen herstellt. Nach Schätzungen von Rey und Gourinchas hätten deutsche Anleger in der Finanzkrise (2007 bis 2015) im Ausland Vermögensverluste über rund 40 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts erzielt, wenn man auf die gerade in Deutschland sehr umstrittene Rettungspolitik verzichtet hätte, die unter anderem dazu beitrug, dass Staaten Verluste von Banken übernahmen, ohne die Banken nachhaltig zu sanieren. Tatsächlich betrugen die deutschen Vermögensverluste rund 20 Prozent des BIP. Das klingt zunächst akzeptabel, andererseits trägt die Rettungspolitik zum Beispiel durch den Verzicht auf eine konsequente Sanierung der Banken, nach Ansicht der französischen Ökonomen dazu bei, dass die wirtschaftliche Erholung in der Eurozone schleppender als notwendig verläuft, worunter auch Deutschland leidet.

Für die Schweiz lässt sich ein anderes Problem zeigen. Sie hat zwar darauf verzichtet, durch eine deutliche Ausweitung ihrer Staatsverschuldung die Nachfrage nach Staatsanleihen der Eidgenossenschaft zu befriedigen. Die auf der Suche nach Sicherheit bedachten Ausländer trieben die Preise der existierenden Anleihen daraufhin auf unglaublich anmutende Höhen – und die Renditen auf unglaublich anmutende Tiefen. Sie sorgten für einen starken Aufwertungsdruck auf den Franken und brachten die Nationalbank in ein Dilemma, indem sie entweder eine Rezession riskierte oder aber eine sehr expansive Geldpolitik betrieb.

Besserung ist nicht in Sicht: Rey und Gourinchas gehen davon aus, dass die Knappheit an sicheren Anlagen die Renditen noch lange unten halten wird.


  1. Auf diesen Punkt verweist vor allem der Yale-Ökonom Bengt Holmstrom: Geeignet als sichere Anlage ist  “information insensitive debt”, weil keine Informationskosten entstehen. Deshalb ist der Schuldvertrag seit langer Zeit ein verbreiteter und sehr effizienter Begleiter der Finanzgeschichte der Menschheit – und, man könnte hinzufügen, die Vorstellung “Schulden” seien etwas inhärent Böses und Schlechtes, ist daher aus ökonomischer Sicht absurd.