Zeitenwende an den Finanzmärkten: In sehr unsicheren Zeiten funktionieren alte Rezepte nicht mehr gut – auch in der Geldpolitik.
“Wir sollten zugeben, dass jede Wissenschaft willkürlich ist. Wenn wir vor dem Kaminfeuer sitzen, sehen wir Muster und Bilder in den Flammen.” (George L.S. Shackle)
In regelmäßigen Abständen befragt die Bank of America Großanleger wie Versicherungen, Banken und Fondsgesellschaften rund um den Globus nach ihrer Strategie. Demnach haben die Großanleger im Durchschnitt zuletzt Aktien verkauft; im Gegenzug halten sie heute einen so hohen Anteil ihrer Vermögen auf Bankkonten wie zuletzt im Jahre 2001. In jenem Jahr sorgten die Angriffe vom 11. September nicht nur in den Vereinigten Staaten für ein hohes Maß an zunächst politischer und später auch wirtschaftlicher Unsicherheit.
Nun ergreift in unserer Zeit wirtschaftliche und politische Unsicherheit immer mehr Menschen. Neun Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise hat die Weltwirtschaft noch immer nicht zu einem dynamischen Wachstum zurückgefunden. Alternde Gesellschaften, hohe private und staatliche Schulden sowie ein die Welt nachhaltig verändernder, aber zumindest bisher die Wirtschaft offenbar kaum belebender technischer Fortschritt tragen ebenso zur Verunsicherung bei wie historisch niedrige Inflationsraten und Zinsen. Auch in politischer Sicht wird die Welt immer unruhiger. Die Menschen wissen nicht, was auf sie zukommt.
Risiko und Unsicherheit unterscheiden
Um die Folgen dieser Entwicklung für die Finanzmärkte zu analysieren, ist die Unterscheidung zwischen Unsicherheit und Risiko fundamental. Mit Risiko ist eine Sicht der Welt gemeint, in der die Menschen die Zukunft nicht kennen, aber davon ausgehen, dass sie denkbaren künftigen Entwicklungen einigermaßen zuverlässig Eintrittswahrscheinlichkeiten zuordnen können, die sie häufig aus vergangenen Erfahrungen ableiten. Ein gewisses Maß an Determinismus ist dieser Weltsicht eigen. An den Finanzmärkten ist dieses Denken sehr weit verbreitet. Der Aufteilung eines Vermögens auf verschiedene Anlageklassen geschieht nicht selten mit dem Blick auf frühere Erfahrungen mit einzelnen Anlageklassen.
Der Blick in die Vergangenheit ist nicht zwingend. Für die britische EU-Abstimmung gab es kaum historische Vorbilder; dennoch äußerten viele Analysten vorher die Einschätzung, die Briten würden mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent für den Verbleib stimmen. Im vergangenen Jahr veröffentlichten Bankökonomen Wahrscheinlichkeiten für einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion; heute gibt es Schätzungen der Wahrscheinlichkeit einer italienischen Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft, falls Ministerpräsident Matteo Renzi aus einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung im Herbst als Verlierer hervorgehen sollte.
Die an Märkten beliebten Prognosen über den Zeitpunkt und das Ausmaß von Änderungen der Geldpolitik beruhen ebenfalls auf der Vermutung, dass sich die Zukunft zumindest grob in den Griff bekommen lässt. Das führt in einer unsicheren Welt zu der kuriosen Situation, dass Anfang des Jahres viele Beobachter für 2016 vier Leitzinserhöhungen der amerikanischen Fed erwarteten, während im Juni keine Leitzinserhöhung als wahrscheinlichste Option galt.
Anders als Risiko bezeichnet Unsicherheit eine Sicht der Welt, in der Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen schlichtweg nicht möglich sind. Die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit geht auf den Ökonomen Frank Knight (1885 bis 1972) zurück, und kaum zufällig wurde sie in der damals als sehr unsicher wahrgenommenen Zeit zwischen den Weltkriegen veröffentlicht. John Maynard Keynes nahm sich damals ebenfalls des Themas Unsicherheit an.1) In seiner “Allgemeinen Theorie” schrieb der Brite: “Mit ‘unsicherem’ Wissen will ich nicht einfach sicheres Wissen von dem unterscheiden, was nur wahrscheinlich ist. … Ich benutze diesen Begriff in dem Sinne, dass die Aussicht eines Krieges in Europa unsicher ist, oder der Kupferpreis und der Zinssatz in zwanzig Jahren oder den Alterungsprozess einer Innovation… Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage, dazu kalkulierbare Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Wir wissen es einfach nicht!”
Die Hälfte der Deutschen spart zu Hause statt auf der Bank
In einer als ähnlich unsicher wahrgenommenen Zeit wie der Epoche zwischen den Weltkriegen scheinen wir heute zu leben, und die Ungewissheit ergreift nicht nur Großanleger. Nach einer Umfrage der Bank of Scotland spart heute fast die Hälfte der Deutschen Geld zu Hause an, anstatt es zur Bank zu bringen. Ein Bargeldbestand in den eigenen Wänden sorge für ein Gefühl der Sicherheit, heißt die wichtigste Ursache.
“Ein Mensch kann sich entschließen, Geld zu behalten, anstatt es für Käufe zu verwenden. In Theorien der reinen Wahl ist nur Platz für Geld als eine Werteinheit, aber nicht für Geld als einen Wertspeicher, eine Kapitalanlage. Aber alle interessanten Eigenschaften des Geldes entstammen seiner Verwendung als Kapitalanlage.” (George L.S. Shackle)
An den Finanzmärkten wird seit Jahren viel über sichere Anlagen gesprochen – also Anlagen, deren Wert sich vermutlich nicht unversehens stark ändern wird. Sichere Anlagen sind bei Nullinflation vor allem Geld (Bargeld und Bankeinlagen) sowie Anleihen erstklassiger Schuldner. Schon vor Jahrzehnten hatte der Nobelpreisträger James Tobin auf eine enge Verwandtschaft von Bankeinlagen mit sicheren Staatsanleihen verwiesen, während nach seiner Ansicht solche Anleihen und Aktien, deren Kurse oft stark schwanken, sehr unterschiedliche Finanzprodukte sind. Das erklärt, warum keine Massenflucht aus Staatsanleihen in Aktien stattgefunden hat.
Seit Beginn der Krise hat sich die Zahl erstklassiger Anleiheschuldner erheblich reduziert, während die Nachfrage nach solchen Anleihen eher gestiegen ist. Diese Nachfrage nach sicheren Anlagen ist neben dem langsamen Wachstum von Wirtschaft und Produktivität, sehr niedrigen Inflationsraten und einer sehr expansiven Geldpolitik in vielen Industrienationen ein wesentlicher Grund für die hohen Preise solcher Anleihen, deren Renditen damit deutlich zurückgegangen sind. Viele Studien zeigen, dass der sogenannte “natürliche Zins”, das ist der Zinssatz, bei dem sich eine Wirtschaft in einem inflationsfreien Vollbeschäftigungszustand befindet, in den vergangenen Jahren in den Industrienationen deutlich gefallen ist.
Wie unnatürlich sind negative nominale Renditen?
Heute weisen Anleihen im Gesamtwert von rund 9 Billionen Euro negative Renditen aus. Zwei Drittel dieses Betrages entfallen auf japanische, ein Drittel auf europäische Anleihen. In anderen Industrienationen sind die Renditen positiv, aber auch nahe ihrer historischen Tiefstände. Oft ist an den Finanzmärkten zu hören, negative nominale Renditen seien verrückt und unnatürlich. Das mag mit Blick auf frühere Erfahrungen so erscheinen, obwohl früher in Deutschland der Realzins auf Bankeinlagen häufiger negativ war. Auch in einer Welt hoher Unsicherheit bleiben negative nominale Renditen zweifellos erklärungsbedürftige Ereignisse. Sie mögen, sofern sie sich langfristig etablieren sollten, mit bedeutenden wirtschaftlichen Kosten verbunden sein. Aber deswegen ist ihr Auftauchen nicht zwingend ein Beleg für Verrücktheit.
Manche Großanleger sind bereit, Geld zu negativen Zinsen zu parken, sofern die Anlage sicher ist. Der negative Zins ähnelt dann einer Versicherungsprämie. Diese Kapitalanlage muss nicht optimal sein, ein Ausdruck von Irrationalität ist sie nicht. Ebenso wenig ist die Welt durchgedreht, weil sie heute anders ist als früher. Die „gute alte Zeit“ ist kein Topos, der sich sinnvoll für Vorgänge an Finanzmärkten nutzen lässt. Frühere Renditen sind für künftige Renditen ohne Bedeutung.
Der liberale amerikanische Ökonom Tyler Cowen geht sogar so weit, negative Renditen als einen Ausdruck wachsender privater Vermögen und damit als ein Wohlstandsphänomen zu betrachten. Nach Schätzungen der Credit Suisse dürften am Ende des Jahrzehnts die privaten Vermögen in der Welt umgerechnet rund 330 Billionen Euro betragen. Sichere Anleihen böten eine Art Versicherungsschutz gegen ökonomische Großrisiken und die negative Rendite sei eine durchaus günstige Versicherungsprämie, schreibt Cowen. Nachfrage nach sicheren Anlagen sieht er unter anderem bei Vermögenden in Ländern wie China und Indien, deren private Versicherungsmärkte unterentwickelt seien. Daher sei auf lange Zeit mit negativen Renditen zu rechen, aber darüber müsse man sich keine Sorgen machen.
“In den Naturwissenschaften baut das, was wir denken, auf dem auf, was wir sehen. Aber in den Wirtschaftswissenschaften baut das, was wir sehen, auf dem auf, was wir denken.” (George L.S. Shackle)
Ein Spezialist in der Erforschung der Unsicherheit war der heute nahezu vergessene Ökonom George L.S. Shackle (1903 bis 1992).2) In seiner Vorstellung wird die Zukunft durch heutige Entscheidungen von Menschen beeinflusst, die ihrerseits diese Zukunft aber nicht kennen. Prognosen sind nicht möglich; mit Überraschungen ist immer zu rechnen: „In orientierungslosen Zeiten ist aus wirtschaftlicher Sicht ist ein katastrophaler Konjunktureinbruch ebenso möglich wie eine unkontrollierte Inflation und die Zerstörung der Währung oder das Vertrauen in der Gesellschaft.“ Überraschungen müssen aber nicht zu Katastrophen führen: „Es wird eine unvorhersehbare Gesellschaft sein, in der sich Momente oder Intervalle der Ordnung, Sicherheit und Schönheit mit plötzlicher Desintegration und Kaskaden abwechseln, die zu neuen Mustern führen.“ Shackle war kein Nihilist, aber eine starre Ausrichtung an Regeln fand er suboptimal. Ordnung wird in einer unvorhersehbaren Welt zu einem fragilen Konzept.
Mervyn King sieht eine Zeit „radikaler Unsicherheit”
Dass ein starres Festhalten an scheinbar erprobten Praktiken zum Beispiel in der Geldpolitik und an Finanzmärkten in Zeiten „radikaler Unsicherheit“ problematisch werden kann, hat kürzlich der ehemalige Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, in seinem Buch „The End of Alchemy“ thematisiert: „Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Geld, Einkommen, Ersparnis und Zinssätzen sind unvorhersehbar, obwohl sie das Ergebnis der Versuche rationaler Menschen sind, sich in einer unsicheren Welt zu orientieren.“ Kings Buch wird auch an den Finanzmärkten gelesen. “Wie King richtig ausführt, sind oftmals große politische Überraschungen für bedeutende Entwicklungen der Weltwirtschaft verantwortlich” schreibt Joachim Fels, ökonomischer Berater bei der kalifornischen Fondsgesellschaft Pimco. “Sie stellen ‘keine zufälligen Schocks innerhalb der Prognosemodelle, sondern eine Realisierung der radikalen Unsicherheit dar’, wie es King formuliert. Der Brexit, Donald Trump und der zunehmende Populismus: Was sind die Folgen, und was kommt als Nächstes? Wir alle können wohl begründete Vermutungen anstellen. Letztendlich müssen wir jedoch abwarten.”
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise wird der Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit wieder wahrgenommen. Als im September 2008 die große amerikanische Versicherung AIG zusammen mit der Investmentbank Lehman Brothers unmittelbar vor dem Zusammenbruch stand, wurde das Management von AIG gefragt, warum es so viele Risiken in seiner Bilanz angesammelt habe. Die Antwort war einfach: Die Versicherung hatte mit Blick auf frühere Erfahrungen Projektionen für die Zukunft gemacht, aber da es in der jüngeren Vergangenheit keine schwere Finanzkrise gegeben hatte, sahen die Risikomodelle von AIG eine solche Krise auch nicht für die Zukunft vor.
Seitdem hat sich einiges getan, aber mit Blick auf die Regulierung ist King nicht glücklich: “Regulation has become extraordinarily complex, and in ways that do not go to the heart of the problem. … The objective of detail in regulation is to bring clarity, not to leave regulators and regulated alike uncertain about the current state of the law. Much of the complexity reflects pressure from financial firms. By encouraging a culture in which compliance with detailed regulation is a defense against a charge of wrongdoing, bankers and regulators have colluded in a self-defeating spiral of complexity.”
Heute stellt sich auch die Frage, welche Lehren die Geldpolitik ziehen muss, um in einer Zeit hoher allgemeiner Unsicherheit durch eigenes Handeln nicht noch zusätzliche Unsicherheit zu erzeugen. Selbst wohlmeinende Beobachter schütteln mit Blick auf die amerikanische Fed den Kopf, weil die Führung der amerikanischen Notenbank in den vergangenen Monaten sehr widersprüchliche Signale über ihren Kurs aussandte. In Europa stellt sich die Frage, ob die aktuelle Geldpolitik der EZB, die sich sehr wohl aus einem angelsächsischen Lehrbuch ableiten ließe, nicht mittlerweile das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken soll. Eigentlich sollten niedrige Zinsen die Wirtschaft ankurbeln, aber wenn sie von den Menschen als Symbol einer tiefen Krise begriffen werden, können sie zusätzliche Unsicherheit erzeugen, die das Wirtschaftswachstum lähmt.3)
Leider ist es nicht möglich, die positiven und negativen Folgen von Geldpolitik (oder jeder anderen Politik) zu jedem beliebigen Zeitpunkt genau zu saldieren und auch für die Politik der EZB liegen solche Berechnungen nicht vor. Andererseits folgt aus nachvollziehbaren Zweifeln an der aktuellen Geldpolitik keineswegs, dass in einer wirtschaftlich fragilen Welt eine Leitzinserhöhung positiv aufgenommen werden würde – das Ergebnis könnte im Extremfall grauenhaft sein. Wie Keynes weiter oben schrieb: “Wir wissen es einfach nicht!” Für eine Welt sehr hoher Unsicherheit, in der auf altbekannte Zusammenhänge kein Verlass mehr scheint, liegt bisher leider kein neues Lehrbuch vor.
- Wie Paul Krugman vor ein paar Jahren feststellte, hängt die Einschätzung der Bedeutung des Themas Unsicherheit in Keynes’ Werk wesentlich von der Einschätzung des 12. Kapitels (“The State of Long-Term Expectation”) der “General Theory” ab. Der keynesianische Mainstream hat das 12. Kapitel nie sehr hoch gehängt im Unterschied zu einem Ökonom wie Hyman Minsky (“Keynes without uncertainty is something like Hamlet without the Prince”) und anderen keynesianischen Heterodoxen. Paul Samuelson, der wesentlich zur Popularisierung des Mainstream-Keynesianismus beitrug, sagte einmal, man habe Unsicherheit in der frühen Nachkriegszeit anders als Friktionen an Arbeitsmärkten nicht leicht modellieren können und dies sei der Grund, warum Generationen von Ökonomen mit dem Namen Keynes vor allem realwirtschaftliche Friktionen verbinden.
- Shackle studierte in den dreißiger Jahren bei Friedrich von Hayek an der London School of Economics, wurde dann aber, wie viele seiner Zeitgenossen, durch John Maynard Keynes in Cambridge beeinflusst. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Shackle, der viele Jahre Professor in Liverpool war, intensiv dem Thema Unsicherheit, dem er sich mit einem stark subjektivistischen Ansatz näherte. Als Einstieg ist hier ein Interview mit Shackle.
- Nach einer aktuellen Umfrage des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMV) sehen 68 Prozent der befragten deutschen Mittelständler in der Geldpolitik der EZB mehr Schaden als Nutzen.