Wer glaubt, die Geldpolitik könne mit kurzfristigen Leitzinsen zuverlässig auch die langfristigen Anleiherenditen in die Höhe treiben, lebt in der Vergangenheit. Die Empirie spricht schon lange eine andere Sprache.
Viele Anleger schauen mit Entsetzen auf die Entwicklung der Renditen langfristiger Anleihen. Nicht nur zehnjährige Bundesanleihen weisen eine negative Rendite auf. Nach Schätzungen gibt es derzeit Anleihen im Gesamtwert von rund 12 Billionen Euro, die negativ rentieren. In anderen Ländern sind die Renditen langfristiger Anleihen zwar positiv, aber auf oder nahe historischer Tiefstände – so ist die Rendite zehnjähriger britischer Staatsanleihen bis auf 0,52 Prozent gefallen.
Die Epoche sehr niedriger Anleiherenditen, die eine langfristige Kapitalbildung erschwert, ist ein globales Phänomen. Viele Anleger führen es alleine auf die sehr expansive Geldpolitik zurück. Würden die Notenbanken ihre kurzfristigen Leitzinsen erhöhen, gäbe es mit Sicherheit wieder höhere längerfristige Renditen, heißt es. Diese Denkweise ist seit Jahrzehnten an den Finanzmärkten etabliert. Sie ist aber auch aus der Zeit gefallen – und das nicht erst seit heute.
Hier ist ein Gegenbeispiel: Im Dezember 2015 erhöhte die Fed den amerikanischen Leitzins zum ersten Mal seit mehreren Jahren. Nicht nur an den Finanzmärkten war damals die Ansicht weit verbreitet, der Leitzinserhöhung würden weitere folgen. Der Vizepräsident der Fed, Stanley Fischer, deutete noch Wochen danach die Möglichkeit von vier Leitzinserhöhungen im Jahre 2016 an. Zum Zeitpunkt der Leitzinserhöhung lag die Rendite zehnjähriger amerikanischer Staatsanleihen bei 2,20 Prozent. Nach der traditionellen Ansicht hätte die Rendite dieser Anleihen steigen müssen. Das Gegenteil ist geschehen: Die Rendite fiel über Monate und erreichte im Juli 2016 ein Allzeittief von 1,36 Prozent.
Politische Instrumentalisierung einer unpolitischen Theorie
Die traditionelle Ansicht, nach der die langfristigen Anleiherenditen vom kurzfristigen Leitzins der Notenbank gesteuert werden, stützt sich auf ein ehrwürdiges Monument: die Erwartungstheorie des Zinses, die noch heute als eine der wichtigsten Theorien der Zinsstruktur in den Lehrbüchern behandelt wird. Zu ihren Stammvätern zählen berühmte Ökonomen wie Irving Fisher (1867 bis 1947) und der Nobelpreisträger John Hicks (1904 bis 1989).
Ihr Grundgedanke ist einfach: Man kann einen langen Zeitraum in eine Vielzahl aufeinander folgender kurzer Zeiträume unterteilen – der langfristige Zins für sichere Anlagen lässt sich dann aus einer Abfolge kurzfristiger Zinsen berechnen. Da die Notenbank unbestritten den kurzfristigen Zinssatz steuert, müsste die langfristige Rendite einer Bundesanleihe aus dem aktuellen und dem für die Laufzeit der Anleihe erwarteten kurzfristigen Leitzins berechnet werden können.
So gehen seit Jahrzehnten Ökonomen und Anlagestrategen in Banken und anderen großen Finanzhäusern in ihren Zinsprognosen vor. Auch viele Modelle zur Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beinhalten die Erwartungstheorie des Zinses, darunter die heute dominierenden Modelle der neokeynesianischen Makrotheorie. Für öffentliche Diskussionen besitzt diese Theorie überdies zwei Vorzüge: Sie ist (scheinbar) simpel und sie gestattet, im Falle zu niedriger Renditen die ganze Verantwortung den bösen Buben aus der Geldpolitik zuzuweisen. Dieser Verlockung der politischen Instrumentalisierung einer komplett unpolitischen Theorie unterliegen nicht wenige Ökonomen und Finanzmanager.
Die Illusion der Veteranen
Dabei liegen seit mindestens einem Vierteljahrhundert empirische Untersuchungen vor, die zeigen, dass sich in der Praxis Anleiherenditen so nicht bilden. Eine frühe Arbeit stammt von John Campbell und Robert Shiller; zahlreiche weitere Arbeiten sind erschienen. Am Anleihemarkt variieren Zeit- und Risikoprämien; außerdem sind Finanzmärkte entsprechend den Präferenzen und Vorschriften für Großanleger segmentiert. All dies wird in der Erwartungstheorie, der die Annahme perfekter Kapitalmärkte zugrunde liegt, nicht berücksichtigt. Doch in ihrer theoretischen Idealwelt denken viele Veteranen.
Man kann einen klaren Trennstrich ziehen zwischen traditionellen Volkswirten und Vertretern des alten Geistes an den Finanzmärkten auf der einen Seite und Vertretern moderner Finanzökonomik auf der anderen Seite, die beim Gedanken an die praktische Bedeutung der Erwartungstheorie nur den Kopf schütteln. “Langfristige Zinssätze werden nicht einfach von erwarteten kurzfristigen Zinssätzen getrieben”, schreiben Markus Brunnermeier und Yuliy Sannikov. “Die Erwartungstheorie, die den meisten neokeynesianischen Lehrbuchmodellen zugrunde liegt, versagt dramatisch.” Das ist keine Einzelmeinung, wie Brunnermeier/Sannikov betonen: “Die Meinungsunterschiede in der Finanzökonomik gehen nicht um die Frage ob, sondern nur, warum sich Risikoprämien stark im Zeitablauf bewegen.”
Tatsächlich wirken auf die Renditen langfristiger Anleihen neben der Geldpolitik auch andere Einflüsse ein. Die Geldpolitik ist nicht unwichtig – die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen hängt natürlich auch davon ab, was Mario Draghi & Co. in ihren Türmen im Frankfurter Ostend tun. Aber die Renditen hängen nicht nur davon ab, was Draghi & Co. tun. Und diese anderen Einflüsse sind nicht nur wichtig. Sie sind auch schon lange wirksam, nur hat man sich lange Zeit nicht für sie interessiert. Dabei sinken die Anleiherenditen in den Industrienationen im Trend seit mindestens 30 Jahren. Für die Vereinigten Staaten lässt sich ein solcher langfristiger Trend, der allerdings immer wieder von vorübergehenden Gegentrends unterbrochen wurde, sogar seit fast 100 Jahren zeigen.
Lange Zeit kassierten Anleihebesitzer unter den Großanlegern still und leise die Kursgewinne ein, die in einer Epoche sinkender Renditen automatisch anfallen. So konnte man auch mit Festverzinslichen guter Bonität ansehnliche Renditen erzielen, ohne ins Risiko gehen zu müssen – ein Traum für jeden Vermögensverwalter. Öffentlich zum Thema gemacht und skandalisiert wurde dieser Trend erst, als sich die Renditen der Nulllinie annäherten und sich Vermögensverwalter und Anleger erschrocken zu fragen begannen, wie sie nun mit risikolosen Anlagen langfristig Kapital bilden sollen. Eine These lautet, die niedrigen Renditen wären Ausdruck einer Welt, die in den Jahren nach der Finanzkrise verrückt geworden sei und in der die Geldpolitiker die Direktion des Irrenhauses übernommen hätten. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Renditefall um ein säkulares Phänomen.
Neues aus der BIZ
Eine neue Arbeit von Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weist ein weiteres Mal nach, dass die Anleiherenditen in der Welt nicht alleine von der Geldpolitik beeinflusst werden, sondern dass hier weitere mächtige Kräfte am Werk sind. Das ist auch bemerkenswert, weil die BIZ-Ökonomen der sehr expansiven Geldpolitik unserer Zeit eigentlich sehr kritisch gegenüberstehen und aus ihrer Kritik keinen Hehl machen. Aber auch für sie ist die These, die sehr expansive Geldpolitik erkläre alleine oder überwiegend den Fall der langfristigen Anleiherenditen unhaltbar. „Kurzfristige Zinsen beeinflussen langfristige Renditen, aber sie bestimmen sie nicht“, schreiben Peter Hördahl, Jhuvesh Sobrun und Philip Turner. Dafür spreche schon alleine die Tatsache, dass die Anleiherenditen seit sehr langer Zeit zurück gingen: „Es wäre unplausibel, einen Jahrzehnte währenden Trend alleine mit der Geldpolitik erklären zu wollen.“
Die drei Ökonomen untersuchen die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte für Industrienationen und wichtige Schwellenländer. Ihre erste wichtige Schlussfolgerung lautet, dass die Anleiherenditen rund um den Globus im Laufe der Zeit immer stärker von der Entwicklung der Anleiherenditen in den Vereinigten Staaten beeinflusst werden. Das gilt vor allem für Schwellenländer, deren nationaler Einfluss auf ihre Anleiherenditen nur gering ist: „Notenbanken in kleinen Ländern haben nur eine sehr geringe Fähigkeit, die langfristigen Renditen in ihrer eigenen Währung zu beeinflussen. Die direkte Wirkung eigener Leitzinsänderungen im Vergleich zu Leitzinsänderungen der Fed ist klein.“
Aber es gilt auch für andere Industrienationen. Selbst die Rendite-Entwicklung deutscher Bundesanleihen wird von der Rendite amerikanischer Staatsanleihen beeinflusst. Dafür sorgen internationale Großanleger, die deutsche und amerikanische Anleihen als recht gute Substitute betrachten, weil beide in die immer kleiner werdende Kategorie sicherer und gleichzeitig liquider Kapitalanlagen gehören. Damit rücken die Bestimmungsgründe der amerikanischen Anleiherenditen in den Mittelpunkt des Interesse. Hier spielt die Leitzinspolitik der Fed wiederum eine Rolle, aber auch diese ist begrenzt: „Der langfristige Zins ist nicht völlig unter Kontrolle der Geldpolitik.“
Die anderen Einflüsse auf die langfristigen Anleihenrenditen sind zahlreich. Wir haben in FAZIT bereits mehrfach über diese Einflüsse geschrieben, zum Beispiel hier. Manche von ihnen wirken seit Jahrzehnten, andere dürften eher vorübergehender Natur sein. Zu den langfristigen Einflüssen zählen unter anderem die Demografie, ein im Trend niedrigeres reales Wirtschaftswachstum in den Industrienationen und eine im Verhältnis zur Investitionsnachfrage hohe Ersparnisbildung. Die Investitionsnachfrage wird säkular beeinflusst durch einen Trend zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, der weniger Großinvestitionen in Sachkapital erfordert, während eine höhere Lebenserwartung und eine angesichts der Alterung von Gesellschaften zunehmende Belastung der umlagefinanzierten Altersvorsorge die private Ersparnisbildung fördert. Aber auch möglicherweise nur kurz- oder mittelfristige Einflüsse sind am Werk, die renditesenkend wirken. Zu ihnen zählen ein hohes Maß an Unsicherheit, das Sachinvestitionen hemmt und Käufe sicherer Kapitalanlagen treibt, Anleihekäufe von Notenbanken sowie die schwache Kapitalisierung vieler Banken.
Suche nach der “neuen Normalität”
Die Vielzahl der Kräfte, die auf die langfristigen Anleiherenditen wirken, gestattet nach Ansicht von Hördahl, Sobrun und Turner keine Prognose der künftigen Entwicklung. Allerdings gehen sie wie eine wohl wachsende Zahl von Ökonomen davon aus, dass in einer absehbaren Zukunft das Renditeniveau nicht mehr auf Höhen steigen wird, wie man sie vor mehreren Jahrzehnten kannte. Die „neue Normalität“ wird, zumindest für sichere Anlagen, durch niedrige Renditen gekennzeichnet sein. Auch das zeigt, dass die Ansicht vieler Finanzmarktteilnehmer, es werde schon wieder attraktive Renditen geben, sofern nur die Geldpolitik ihren Kurs ändere, auf Wunschdenken beruhen dürfte.
Das Denken über eine “neue Normalität” wird durch Studien von Ökonomen gefördert, nach denen der sogenannte neutrale Zins – das ist der Zins, der mit optimalem Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und niedriger Inflation vereinbar ist – in den Vereinigten Staaten auch heute, im siebten Jahr eines Konjunkturaufschwungs, immer noch nahe Null liegen dürfte. Diese Schätzungen sind notwendigerweise mit hohen Unsicherheit versehen, da der neutrale Zins nicht direkt beobachtet werden kann. Der amerikanische Ökonom John Taylor und sein Frankfurter Kollege Volker Wieland argumentieren, dass diese Schätzungen auf einer sehr fragilen Basis beruhen und vermutlich zu falschen Ergebnissen führen und warnen vor einer vorschnellen Nutzung der Schätzungen durch die Geldpolitik. Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, dem Wieland angehört, hat sich in seinem jüngsten Jahresgutachten kritisch mit diesen Arbeiten befasst.
Ein weiterer Einwand gegen die “neue Normalität” lautet, dass die sehr niedrigen Anleiherenditen für Staaten als Indikator nichts taugen, da sie durch die Geldpolitik verzerrt sind. Statt dessen solle man auf die Renditen von Unternehmensanleihen schauen. Dieses Argument – so es denn überhaupt jemals etwas getaugt haben sollte – trägt allerdings immer weniger, da die Renditeabstände zwischen Staats- und Unternehmensanleihen geringer werden – und zwar auch in den Vereinigten Staaten, wo die Fed ihre Anleihebestände nicht aufstockt. Die Kritik an Schätzungen eines neutralen Zinses mag ihre Berechtigung haben, aber es wird schwer sein, die sehr niedrigen Marktrenditen rund um den Globus als irrelevant abzutun: Versuche, die “neue Normalität” weg zu definieren, werden nicht funktionieren.