Seit Jahrzehnten sucht die Fachwelt eine Erklärung für den großen Renditeabstand zwischen Aktien und sicheren Kapitalanlagen. Hilft die Theorie der seltenen Katastrophe?
Stellen Sie sich die zwei folgenden Alternativen vor: Sie können entweder mit Sicherheit 51.209 Euro erhalten (Option A) oder mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 50 Prozent, etwa durch einen Münzwurf, entweder 50.000 oder 100.000 Euro erhalten (Option B). Die meisten Menschen dürften sich für den Münzwurf entscheiden, denn dort erhalten sie im schlechten Fall nur 1.209 Euro weniger als in Option A, aber dafür lockt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent ein Gewinn von 100 000 Euro. Nur wenige Menschen dürften die beiden Optionen als gleichwertig ansehen; um dies zu tun, muss man schon sehr risikoscheu sein.
Das Erstaunliche ist: Das Verhalten der Menschen an Wertpapiermärkten zeigt ein vergleichbares Maß von sehr hoher Risikoscheu – und zwar in vielen Ländern und über Jahrzehnte. Dass Anleger nach schweren Finanzkrisen vorsichtig sind und lieber Renditechancen opfern, um ihr Geld sicher anzulegen, ist nachvollziehbar, wenn auch nicht zwingend eine gute Strategie. Aber eine extrem hohe Risikoscheu kennzeichnet die Finanzmärkte auch in sehr guten Zeiten. Der Befund ist seit mehreren Jahrzehnten bekannt, aber es fehlt bis heute eine vernünftige Erklärung, obgleich es nicht an Erklärungsversuchen fehlt. Fachleute sprechen vom sogenannten Aktienprämienrätsel („Equity Premium Puzzle“).
Begeben wir uns in die späten siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In den Vereinigten Staaten schauen sich zwei junge Ökonomen, Rajnish Mehra und Edward J. Prescott, langfristige Zeitreihen mit Renditen amerikanischer Aktienindizes und kurzfristiger staatlicher Wertpapiere (Schatzwechsel) an. Kurzfristige amerikanische Schatzwechsel gelten als eine außerordentlich sichere Kapitalanlage; Aktien stehen im Ruf, riskanter zu sein. Solche Daten reichen in den Vereinigten Staaten bis in das 19. Jahrhundert zurück und in der Zwischenzeit wurden die Untersuchungen bis in unsere Zeit fortgeführt.
Mehra und Prescott machten eine erstaunliche Entdeckung: Die Rendite des Aktienindex übertrifft die Rendite der Schatzwechsel in einem nach gängigen Vorstellungen des Anlageverhaltens nicht erwarteten Ausmaß. Für den Zeitraum von 1889 bis 1998 brachte ein Aktienindex in den Vereinigten Staaten, um die Inflationsrate bereinigt, eine durchschnittliche jährliche Rendite von 7 Prozent. Die Schatzwechsel brachten, wiederum um die Inflationsrate bereinigt, eine durchschnittliche jährliche Rendite von 0,8 Prozent. Die Differenz zwischen der Aktienanlage und der Anlage in Schatzwechsel beträgt 6,2 Prozent im Jahr – das ist die sogenannte Aktienprämie.
Erstaunlich ist dabei nicht, dass Aktien eine höhere Rendite bringen, denn sie gelten als die riskantere Anlageform. Aktienkurse schwanken nach allgemeiner Auffassung stark, und wenn der Anleger einen unglücklichen Zeitraum erwischt, kann er mit Aktien auch viel Geld verlieren. Daher ist es nicht erstaunlich, dass Anleger nur dann Aktien kaufen, wenn sie sich davon eine höhere Rendite als mit Schatzwechseln erwarten. Für das höhere Risiko erwarten sie auch einen höheren Ertrag.
Das klingt in der Theorie gut. Allerdings zeigen die Untersuchungen von Mehra und Prescott auch, dass in ihrem Beobachtungszeitraum die Renditen der Schatzwechsel stark schwankten, und zwar fast so stark wie die Kurse am Aktienmarkt. Ein Vergleich der Schwankungen kommt zu dem Schluss, dass ein jährlicher Renditeaufschlag von etwa einem Prozentpunkt für die Aktienanlage angemessen gewesen wäre, um das etwas höhere Risiko auszugleichen. Tatsächlich aber betrug der Renditeaufschlag 6,2 Prozent! Das deutet auf eine ganz extrem hohe Risikoscheu, die schon fast unglaubwürdig wirkt. Diese sehr hohe Prämie sei ein Rätsel, schrieben Mehra und Prescott damals. Ihr Geschichte klang so obskur, dass sie sechs lange Jahre warten musste, ehe eine Fachzeitschrift ihren Aufsatz im Jahre 1985 endlich abdruckte. Dabei sind die Autoren keine Amateure. Prescott hat in der Zwischenzeit einen Nobelpreis erhalten.
Seit 1985 sind zwei Dinge geschehen. Erstens hat sich der Befund einer außerordentlich hohen Aktienprämie bis in unsere Zeit und auch für andere Länder als die Vereinigten Staaten bestätigt. Was dies in einer über Generationen reichenden Kapitalanlage bedeutet, hat Mehra anhand eines Beispiels gezeigt, in dem unterstellt wird, dass Zins- und Dividendenzahlungen wieder angelegt werden. Wer im Jahr 1926 einen Dollar in amerikanische Schatzwechsel investierte, kam im Jahre 2000 auf ein Vermögen von nominal 16,56 Dollar, was nach Abzug der Inflation real 1,71 Dollar entsprach. Wer im Jahre 1926 einen Dollar in einen amerikanischen Aktienindex investierte, besaß im Jahre 2000 nominal 2587 Dollar und real 266 Dollar. Zwischen dem Schatzwechsel und dem Aktienindex liegen ganze Welten. Mit Aktien ließ sich ein Vermögen bauen, mit den Schatzwechseln nicht. Eigentlich müssten sich die Anleger auf Aktien stürzen, aber viele bleiben aus Risikoscheu am Rande des Börsenparketts stehen.
Die zweite Entwicklung seit dem Jahre 1985 ist eine unglaubliche Fülle von Arbeiten, die das Aktienprämienrätsel erklären wollen. Zwar wurde eine Vielzahl von Erklärungsversuchen vorgelegt, aber bis heute wird in der Fachwelt keine der präsentierten Erklärungen akzeptiert. Es existiert jedoch eine Erklärung, die vor der Finanzkrise entwickelt wurde und zumindest für die Zeit seit der Finanzkrise nicht unplausibel klingt. Als allgemeine Erklärung für die sehr hohen Aktienprämien über mehr als 100 Jahre ist sie aber auch höchst umstritten. Das ist die Erklärung auf der Basis der „Theorie der seltenen Katastrophe“, die ursprünglich von Thomas Rietz stammt und später von dem prominenten amerikanischen Ökonomen Robert Barro popularisiert wurde.
Der Grundgedanke ist, dass es zwar selten, aber durchaus immer wieder einmal zu schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten als Folge wirtschaftlicher oder politischer Krisen kommen kann. Diese Verwerfungen äußern sich in einem Crash am Aktienmarkt, während sichere Anlagen wie Schatzwechsel von solchen Ereignissen nach aller Erfahrung kaum erfasst werden. Die Menschen wissen, dass ein solches Ereignis eintreten kann, wissen aber nicht, wann es eintreten wird. Die Argumentation von Rietz/Barro geht so: Die Investoren planen vorsichtshalber die kleine Möglichkeit eines Aktiencrashs während ihres Anlagezeitraums ein und akzeptieren Aktien daher nur als Anlage, wenn sie eine optisch sehr hohe Prämie versprechen. Im Nachhinein, wenn es nicht zum Crash gekommen ist, wirkt die Prämie dann völlig überzogen. Aber im Vorhinein, wenn der Anleger den Crash einrechnet, wirkt die Prämie angemessen.
Wie gesagt, als generelle Erklärung für die hohen Aktienprämien über die Jahrzehnte mag die „Theorie der seltenen Katastrophen“ nicht geeignet sein. Aber sie erklärt sehr gut, warum trotz äußerst niedriger Zinsen für sichere Anlagen in unserer Zeit sich die Anleger der Aktienanlage nur vorsichtig nähern. Nicht zuletzt die Furcht vor einem Crash beeinflusst ihr Verhalten.