„Die G20 diskutieren nicht länger Wachstum versus Austerität, sondern eher wie Fiskalpolitik am Besten angewendet werden kann, um unsere Volkswirtschaften zu unterstützen, und immer mehr auch, um sicherzustellen, dass Wohlstands-Zuwächse des Wachstums breiter geteilt werden – während wir weiterhin einen Fokus haben auf nachhaltige Fiskal-Politiken.“ So hat das der amerikanische Finanzminister Jack Lew gesagt, wenige Tage bevor sich an diesem Wochenende die Spitzen der zwanzig größten Industrie- und Schwellenländer in China treffen.
Seit Jahren schon gibt (gab?) es eine andauernde Debatte in diesem Kreis darum, welche Mittel die Finanzminister und Notenbank-Präsidenten wählen sollen, um die Finanzkrise und ihre schlimmen Folgen zu überwinden. Während aus den Vereinigten Staaten regelmäßig der Ruf erschallte, die Staaten sollten mehr Geld in die Hand nehmen, antwortete das Bundesfinanzministerium darauf stets damit, dass hohe Schulden ja das Problem und nicht die Lösung seien. Nun deutet sich nicht nur aus dem Mundes des amerikanischen Finanzministers an, dass sich der wirtschaftspolitische Instrumenteneinsatz wohl spätestens im kommenden Jahr ändern könnte – hin zu eine eher expansiveren Fiskalpolitik.
Für jedes Ziel ein Mittel – mindestens
Um die Denkmuster dahinter zu verstehen, lohnt es, einen schon vor 22 Jahren verstorbenen Ökonomen in den Blick zu nehmen. Seine Name lautet: Jan Tinbergen. Er wurde im Jahr 1903 im niederländischen Den Haag geboren, studierte Physik, wendete sich allerdings schnell der Wirtschaftslehre zu – weil das in den zwanziger Jahren bessere Aussichten bot, Gutes zu tun, wie einem Nachruf zu entnehmen ist. Tinbergen beschäftige sich viel mit Ökonometrie, also statistischen Methoden, um das Wirtschaftsgeschehen zu messen, Zusammenhänge zu ergründen und Ursache-Wirkungsketten zu errechnen.
Für seine Leistungen wurde er als erster Ökonom überhaupt mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet, im Jahr 1969 war das gewesen. Sein für Generationen von Wirtschaftspolitikern und die sie beratenden Fachleute bedeutendster Beitrag war gleichwohl eine Analyse über die richtige Wirtschaftspolitik. Die zentrale Aussage lautet ungefähr: Um eine bestimmte Zahl wirtschaftspolitischer Ziele zu erreichen, braucht es (mindestens) ebenso viele verschiedene Instrumente. Wenn also ein Staat das Ziel verfolgt, dass möglichst wenige Menschen arbeitslos sind und zugleich das Ziel, dass das Preisniveau stabil bleibt, braucht er zwei verschiedene Mittel – für jedes Ziel eines.
90 Prozent Grenzsteuersatz in Amerika
An dieser Stelle kommt ein zweiter, viel bekannterer und noch lebender Wirtschaftsnobelpreisträger ins Spiel: Robert Mundell. Der aus Kanada stammende Ökonom hatte Tinbergens Ansatz in einen internationalen Wirtschaftszusammenhang gebracht. Er hat diesen Ziel-Mittel-Einsatz untersucht für Länder, die miteinander Handel treiben, unter festen und flexiblen Wechselkursen, mit und ohne Einschränkung des Kapitalverkehrs. Bis heute orientieren sich an diesem „Mundell-Fleming-Modellrahmen“ unzählige wirtschaftspolitische Entscheider (eine ausführliche Würdigung seines Schaffens gibt es hier).
Während Mundell für den Internationalen Währungsfonds arbeitete zu Beginn der sechziger Jahre und dann auch im darauf folgenden Jahrzehnt, gab es in den Vereinigten Staaten eine spannende Diskussion im Grunde gerade darüber. Mundell erläuterte das vor einiger Zeit während einer Feierstunde zu Ehren der Wirtschaftspolitik des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (hier, anschauen lohnt sich sehr).
Auch in den sechziger Jahren verfolgten die Vereinigten Staaten die beiden Ziele eines möglichst hohen Beschäftigungsstandes und zugleich im Schnitt vergleichsweise stabiler Preise. Mundell erläuterte die gegensätzlichen Positionen: Führende Ökonomen dieser Zeit wie Paul Samuelson und James Tobin warben für eine lockere Geldpolitik, um die Beschäftigungslage zu stützen, und für Überschüsse im Staatshaushalt, um die Teuerung im Griff zu behalten. Mundell hingegen trat nach eigenem Bekunden eher für eine straffere Geldpolitik und eine expansivere Fiskalpolitik ein, plädierte für Steuersenkungen.
Kalte Progression, die sich gewaschen hatte
Zu jener Zeit lag der Grenzsteuersatz in den Vereinigten Staaten teilweise oberhalb von 90 Prozent. Mundell lobte ausdrücklich, wie der damalige Präsident John F. Kennedy schließlich umgeschwenkt ist und im Jahr 1963 (kurze Zeit vor seiner Ermordung) eine massive Steuersenkung vorbereitete, die sein Nachfolger Lyndon B. Johnson ein Jahr später schließlich unterschrieb. In den siebziger Jahren dann ging die Debatte über den richtigen Policy-Mix weiter. Mittlerweile hatten die wichtigsten Wirtschaftsnationen das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse beendet, Mitte der siebziger Jahre stieg – auch wegen des Ölpreis-Schocks – die Teuerungsrate und ging zugleich die Arbeitslosigkeit in Amerika nach oben.
Wieder stellte sich die Frage, welches Mittel die Verantwortlichen verwenden sollten für welches des beiden Ziele. Mundell warb für das, was später unter dem Titel „Reaganomics“ in die Geschichtsbücher einging – starke Steuersenkungen auch unter Inkaufnahme steigender Staatsschulden und eine straffere Geldpolitik, zu welcher er den um diese Zeit ins Amt gekommenen Notenbank-Präsidenten Paul Volcker ermutigte. Allein in den Jahren 1979, 1980 und 1981 war die Teuerungsrate in den Vereinigten Staaten zweistellig, erinnerte Mundell. Viele Menschen seien dadurch schlicht in höhere Steuerklassen gerutscht, ein Beispiel für eine kalte Progression, die sich gewaschen hatte. Und außerdem importierten die Vereinigten Staaten eine höhere Teuerung teilweise über den schwächeren Dollar.
Der Policy-Mix änderte sich tatsächlich: Reagan senkte die Steuern substantiell, die Staatsschulden stiegen, die Federal Reserve unter Volcker zog die Zügel an, änderte dafür sogar ihr Instrumentarium (auch wenn sie im Rückblick betrachtet dabei deutlich über das Ziel hinausschoss, um es höflich zu formulieren).
Weniger Geldpolitik, mehr Fiskalpolitik
Womit wir diesen kurzen Exkurs in die Vergangenheit beenden und wieder zurück in die Gegenwart kehren wollen. Infolge der jüngsten Finanzkrise und Rezession reagierten die führenden Industrieländer vor allem damit, dass die Notenbanken auf den Plan traten und mit bislang nicht in diesem Ausmaß angewendeten und teilweise auch ganz neuen Maßnahmen Wirtschaft und Finanzmärkte stabilisierten. Umfangreiche Anleihekaufprogramme (QE), Maßnahmen, die Kreditkonditionen verbessern, und sogar negative Zinssätze auf die Bankeinlagen bei der Notenbank sind hierfür Beispiele. Die Fiskalpolitik hielt sich eher zurück – teils, weil die Länder sie wegen Überschuldungs-Sorgen nicht einsetzen konnten (Italien, Spanien, Portugal, Irland) oder eine gegenseitige Blockade der entscheidenden Parteien sie nicht wirklich ermöglichte (Vereinigte Staaten). Wegen der niedrigen Teuerungsrate sowohl in Amerika als auch in Europa konnte außerdem tatsächlich unterstellt werden, dass die expansive Geldpolitik irgendwie beidem half – stabilem Preisniveau und höherer Beschäftigung.
Nun scheint sich das langsam zu ändern. Führende Vertreter der amerikanischen Notenbank wie etwa ihr Vize Stanley Fischer regen an, dass die Fiskalpolitik nun mehr und die Geldpolitik weniger tun solle. Fachlaute an den Finanzmärkten glauben auch schon, die Spatzen in dieser Hinsicht von den Ministerien pfeifen zu hören – in Washington, Tokio und London zumal. Es gibt die Interpretation, auch die nicht verhängten Strafen gegen Spanien durch die EU könnten zumindest als Anzeichen gedeutet werden. Schon vorgelegt, auch darauf wird verwiesen, hat die kanadische Regierung um den Premierminister Justin Trudeau. Sogar China solle mitziehen, heißt es aus manchem Geldhaus. Bekannt ist schließlich, dass die beiden amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Hillary Clinton und Donald Trump Investitionsprogramme planen – also ein veränderter Policy-Mix der großen Wirtschaftsmächte möglich scheint unabhängig davon, wer diese wichtige Wahl gewinnt.
Dazu passt das Eingangs-Zitat des noch amtierenden amerikanischen Finanzministers Lew. Am Wochenende trifft sich sein Chef Barack Obama nun mit der Kanzlerin und den übrigen Entscheidern in China. Zwar sind die Abschlusserklärungen dieser Gipfel immer diplomatisch verklausuliert und typischerweise so gehalten, dass jeder sagen kann, er habe sich durchgesetzt. Wenig überraschend wäre es allerdings, wenn die Exegeten diesmal wirklich deutlichere Hinweise auf eine Änderung des Policy-Mix finden würden.