Wer Ökonom ist und etwas auf sich hält, war am vergangenen Wochenende in Chicago. Die ehrwürdige American Economic Association, kurz AEA, hielt dort ihr Jahrestreffen ab. In Dutzenden Veranstaltungen präsentierten Professoren ihre Arbeiten, für talentierte Nachwuchsforscher kann die Konferenz zur Eintrittskarte für die Karriere an einer Elite-Uni werden. Und der Veranstalter ließ wissen: “13000 der besten Köpfe der Zunft versammeln sich, um sich zu vernetzen und neue Erfolge der Wirtschaftsforschung zu feiern.”
Partylaune also, wären da nicht Spaßbremsen wie Dave Colander. Der Ökonom des Middlebury College in Vermont reiste nach Chicago, um der eigenen Disziplin den Spiegel vorzuhalten. Im Gepäck hatte er ein Paper, das mit der Zunft hart ins Gericht geht: 99 Prozent seiner Kollegen, behauptet Colander, gehen ihre Arbeit falsch an. Ihre Ergebnisse seien deshalb wenig brauchbar.
Ein scharfer Vorwurf, den der Forscher wie folgt begründet: Die allermeisten Ökonomen betrachteten sich als Wissenschaftler, deren Aufgabe darin bestehe, “die Wahrheit” zu suchen und zu finden. Damit ihnen das gelingt, benutzen sie Modelle, also die Wirklichkeit vereinfachende Konstrukte, die ganz bestimmte Annahmen haben und zu präzisen Ergebnissen führen. Solche Modelle sind in der Ökonomie omnipräsent: Es gibt Modelle für vollkommene Märkte, für Arbeitslosigkeit, für Aktienkurse, für Liebe, einfach für alles.
Dave Colander findet diese Herangehensweise bedenklich: “Der Fetisch der Ökonomen für Modelle ist aus meiner Sicht ein Problem”, sagt er. Es sei blauäugig, die von den Modellen ausgespuckten Ergebnisse als “wissenschaftlich” und “objektiv” anzusehen. Die Forscher blendeten viel zu oft aus, dass die Modelle nur unter bestimmten Bedingungen Aussagekraft haben und bei konkreter Fragestellung auch Dinge eine Rolle spielen können, die mit den Formeln nicht erfasst werden können.
Zum echten Problem werde das, wenn Ökonomen aus ihren Ergebnissen eindeutige Empfehlungen an die Politik ableiteten – zum Beispiel beim Thema Freihandel. Viel zu lange hätten die Forscher in der Öffentlichkeit ein zu positives Bild gezeichnet und nicht klar genug darauf hingewiesen, dass der freie Warenverkehr neben vielen Gewinnern auch Verlierer produziert. In Amerika lässt sich besichtigen, wie wütend diese Verlierer sind – nicht zuletzt sie haben Donald Trump zum nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.
“Ich könnte zahlreiche andere Beispiele geben, bei denen Ökonomen vergessen oder zumindest deutlich heruntergespielt haben, welche Einschränkungen bedacht werden müssen, wenn Ergebnisse aus Modellen zu Politikempfehlungen gemacht werden”, schreibt Colander. In Deutschland würde ihm wohl zuallererst die Debatte um den Mindestlohn einfallen. Hunderttausende könnten ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro kommt: So warnten führende deutsche Ökonomen auf Grundlage ihrer Modellrechnungen. Zwei Jahre später arbeiten hierzulande so viele Menschen wie nie, Mindestlohn hin oder her.
Aber sind solche Fehler vermeidbar? Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass jedes Modell unvollkommen ist und immer weiter verbessert werden muss – oder eben irgendwann durch ein besseres ersetzt wird? Colander will sich mit solchen wissenschaftstheoretischen Argumenten nicht abfinden: “Ich würde nicht über dieses Problem schreiben, wenn ich nicht eine Lösung hätte oder zumindest denken würde, ich hätte eine.”
Geht es nach dem selbstbewussten Kritiker, backen Forscher künftig kleinere Brötchen. Anstatt sich mit abstrakten Modellen auf Wahrheitssuche zu begeben, sollten sie sich als Ingenieure betrachten. “Ingenieurwesen ist keine Wissenschaft. Es ist die Suche nach Antworten auf Probleme.” Ingenieure wüssten, was sie nicht wissen oder nicht wissen können. Darum konzentrierten sie sich in ihrer Arbeit stärker auf das, was sie in der realen Welt vorfinden und was sie für ihre konkrete Fragestellung gebrauchen können.
Ihr Handwerkszeug? Heuristiken, also Verfahren, die zwar verwandt sind mit Modellen, aber sehr viel offener und informeller sind. In Heuristiken könnten auch die Intuition, der gesunde Menschenverstand, historische Erfahrungen und vieles mehr einfließen, zählt Colander auf. Seine Hoffnung: Heuristiken sprengen die engen Grenzen formaler Modelle, fördern die Kreativität und ermöglichen passgenaue Antworten auf konkrete Fragestellungen. Ein solches Umdenken verlangt der Forscher zwar nicht von allen Ökonomen. Aber zumindest diejenigen, die nah an der Praxis arbeiten und Politikempfehlungen geben, müssten zu Ingenieuren werden.
Man muss dieser Fundamentalkritik nicht in allen Punkten zustimmen, um ihr etwas abgewinnen zu können. Denn trotz vieler Fehlleistungen in der Vergangenheit und unzähliger Debatten über die Zukunft der Disziplin hat sich in der Ökonomie auch knapp ein Jahrzehnt nach dem überraschenden Ausbruch der Finanzkrise nicht besonders viel getan.
Noch immer haben Forscher, die auf alternative Modelle und Methode setzen, kaum Chancen auf Veröffentlichungen in den renommierten Fachzeitschriften und damit auch nicht auf Hochschulkarrieren. Es stimmt zwar, dass sich solche alternativen Ansätze im Wettbewerb gegen die etablierten Modelle durchsetzen müssen – aber gibt es in den bestehenden Strukturen überhaupt einen fairen Wettbewerb? Erst jetzt hat in Deutschland die erste staatliche Hochschule, die Universität Siegen, unter dem Titel “Plurale Ökonomik” einen Studiengang eingeführt, in dem unter anderem ordoliberale, Postwachstums- und wirtschaftshistorische Theorien vermittelt werden.
Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang ein Beitrag von Paul Romer. Der Chefökonom der Weltbank hat kürzlich einen “Ehrenkodex” unter Wissenschaftlern angeprangert, der es verbiete, angesehene Forscherpersönlichkeiten anzugreifen. Ob Fakten und Prognosen falsch sind oder Modelle keinen Sinn machen, spiele keine Rolle. Die Wissenschaftler seien ihren Freunden stärker verpflichtet als den Fakten. So hatte das vor Romer noch kein Spitzenforscher formuliert. Sollte an den Vorwürfen etwas dran sein, wäre das eine ernsthafte Hürde für wissenschaftlichen Fortschritt – und ein Grund mehr, Dave Colander genau zuzuhören.