Die These der säkularen Stagnation besagt, dass ein dauerhaft schwaches Wirtschaftswachstum die Zinsen dauerhaft sehr niedrig halten wird. Zwei Stimmen – von Ökonomen sehr unterschiedlicher Ausrichtung – sehen dies anders.
Die erste Stimme:
In der vergangenen Woche hat Claudio Borio, der Leiter der Abteilung für monetäre Forschung in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), einen Vortrag an der Frankfurter Goethe-Universität gehalten, in dem er die in der BIZ favorisierte These eines Finanzzyklus der These einer säkularen Stagnation entgegen stellte. Da Borio kein Manuskript dabei hatte, beruht die nachfolgende Schilderung auf meinen handschriftlichen Notizen sowie früherer Beiträge über den Finanzzyklus.
Nach Borios Ansicht ist die gegenwärtige Phase niedriger Wachstumsraten die logische Folge einer vorangegangenen Krise ist, in der es zu schweren Schädigungen des Finanzsystems gekommen ist. Das Wachstum ist dort am schwächsten, wo man mit der Reinigung der Bankbilanzen weniger konsequent vorgegangen ist – daher ist das Wirtschaftswachstum in Europa und in Japan niedriger als in den Vereinigten Staaten. Unterblieben ist die Bereinigung der Bankbilanzen unter anderem, weil man nach der Krise meinte, den Fokus auf traditionelle Politik zur Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, sprich expansive Geldpolitik, legen zu müssen. Borios These: Die andauernde Ineffizienz des Finanzsystems hält die Zinsen niedriger, als sie sein müssten: “Der natürliche Zins ist positiv und deutlich höher als angenommen.”
Der Ökonom sieht in der dominierenden neokeynesianischen Makroökonomik ein Diagnoseproblem, weil dort dem Finanzsektor einer Wirtschaft zu wenig Beachtung geschenkt wurde – und damit nicht gesehen wurde, dass es neben herkömmlichen Konjunkturzyklen auch langfristige Finanzzyklen gibt und diese beiden Zyklen nicht synchron laufen. Borio meint, dass entgegen traditioneller neokeynesianischer Analysen die amerikanische Wirtschaft vor der im Jahre 2008 ausgebrochenen Krise in einer durch extrem günstige Finanzbedingungen beförderten vorübergehenden Situation des “Heißlaufens” war und dass in dieser Phase langfristiger Schaden für die Produktivitätsentwicklung entstanden ist. (Interessant ist in diesem Zusammenhang diese Arbeit von Borio & Co.)
Die zweite Stimme:
Einer der führenden neokeynesianischen Ökonomen ist Olivier Blanchard, aber auch er gelangt in einer aktuellen, mit zwei Co-Autoren verfassten Arbeit zu dem Schluss, dass der gegenwärtige Zins unnatürlich niedrig ist. Allerdings sieht er seine Arbeit nicht in fundamentalem Gegensatz zur These der säkularen Stagnation stehend und er argumentiert ganz anders als Borio. Nach seiner Ansicht wächst die amerikanische Wirtschaft trotz sehr niedriger Zinsen und eines wieder in besserer Form befindlichen Bankensystems relativ schwach, weil die Menschen bezüglich der wirtschaftlichen Aussichten nicht sehr optimistisch sind. Dies wiederum führt zu einer aktuell unbefriedigenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (die Menschen passen ihre Vorstellung eines permanenten Einkommens à la Friedman an). Allerdings betrachten Blanchard & Co. dieses Effekt nur als vorübergehend: “If our explanation is correct, it has important implications for policy and for forecasts. It may weaken the case for secular stagnation, as it suggestes that the need for very low interest rates may be partly temporary.”
Wer liegt richtig?
Wir haben diese Themen in FAZIT häufiger behandelt. Meine bescheidene Wahrnehmung ist, dass die in den vergangenen Jahren von Neokeynesianern vorgelegten Schätzungen eines sehr niedrigen natürlichen Zinses unter anderem hinterfragbar sind, weil die theoretischen Modelle eine Phillips-Kurve (sprich eine Austauschbeziehung zwischen Beschäftigung und Inflation) beinhalten, die in der Praxis wegen der seit langer Zeit sehr trägen Inflationsrate empirisch in Frage gestellt werden kann.1) Insofern sind die Einwände Borios und anderer Kritiker (zum Beispiel Volker Wielands und des Sachverständigenrats) an diesen Schätzungen nachvollziehbar – und es gibt Neokeynesianer, die diese Einwände akzeptieren. Aber der Kritik muss sich auch das BIZ-Konzept des Finanzzyklus stellen, das man vor allem in theoretischer Hinsicht gerne fundierter sähe. Ein solches Modell liegt allerdings bis heute nicht vor, was die Akzeptanz des ganzen Ansatzes erschwert, da wohl für die meisten forschenden Ökonomen das Prinzip gilt: “It takes a model to beat a model.” Insofern kann auch hier die alte Weisheit zitiert werden: Die Welt ist weder schwarz noch weiß…
- Sehr pointiert ließe sich sagen, dass ein neokeynesianisches Makromodell auf drei Säulen ruht – Euler-Gleichung für die intertemporale Allokation, Phillips-Kurve für die Austauschbeziehung von Beschäftigung und Inflation und Taylor-Regel für die Geldpolitik – und dass alle drei Säulen theoretisch und empirisch hinterfragt werden können. (Man könnte noch weitere Bauteile in Frage stellen wie das Calvo-Preisbildungsmodell.) Andererseits wird dieses Modell trotz aller Schwächen auch weiterhin die Lehrbücher dominieren, solange kein vom Mainstream akzeptiertes Alternativmodell entwickelt wird. Das ist derzeit nicht zu sehen – alle Modelle aus früheren Jahrzehnten gelten unter anderem wegen der damaligen (Nicht-)Modellierung von Erwartungen (aber auch aus anderen Gründen) als unzureichend und moderne Modelle, die vor allem auf Finanzmarktfriktionen setzen, sind (noch) nicht mehrheitsfähig. Allerdings steht die Forschung auch unter Neokeynesianern nicht still: Derzeit läuft unter Mitarbeit von Olivier Blanchard ein Projekt, das die Tauglichkeit etablierter moderner Makromodelle evaluiert und Möglichkeiten der Verbesserung prüft. Und hier ist eine weitere Arbeit, in der sehr einflussreiche Baumeister moderner Makromodelle kritisch auf das eigene Werk blicken. Schwer zu sagen, wo das hinführt, aber mein Eindruck als Beobachter ist, dass die Neokeynesianer die von der Finanzkrise geförderten Attacken mittlerweile ganz gut überstanden und vor allem in methodologischer Sicht die Kontrolle behalten haben.