Wie kann es nach dem Brexit weitergehen? Paul Bernd Spahn lotet Möglichkeiten zur Stärkung der Europäischen Union aus.
Mit der britischen Entscheidung für einen Ausstieg aus der Europäischen Union wird sich Europa verändern. Aber in welche Richtung? Populär ist die Ansicht, der Weg zu einer weiteren Integration in Europa sei damit verbaut – und das sei gut so. Der Frankfurter Ökonom Paul Bernd Spahn vertritt nicht diese Ansicht. Mit dem Brexit-Votum sei die Notwendigkeit entstanden, die Ratio der Europäischen Union neu zu denken, konzediert er in einem englischsprachigen Buch, das nach der britischen Abstimmung und vor der amerikanischen Präsidentenwahl entstanden ist. Aber auch wenn der Brexit bedauerlich sei, weil ein liberal geprägtes Land die Union verlasse, so biete er auch Chancen, weil Großbritannien nicht länger Integrationsschritte verhindern könne.
Spahn ist emeritierter Professor für Finanzwissenschaft, der Goethe-Universität in Frankfurt und er hat nebenher, unter anderem im Auftrag des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, Regierungen und Institutionen in vielen Ländern in der Wirtschafts- und Finanzpolitik beraten. Ein Spezialgebiet Spahns ist der fiskalische Föderalismus, und aus föderalistischer Perspektive hat er sich auf die Spur nach der Zukunft der Europäischen Union begeben. Analysiert hat er unter anderem föderalistische Staatswesen wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien – und, vielleicht auf den ersten Blick etwas überraschend, das stark von Otto von Bismarck geprägte Zweite Deutsche Kaiserreich (1871 bis 1918). Und hier wurde Spahn, der sich anlässlich einer Präsentation seines Buches in Frankfurt als „Bismarck-Fan“ outete, fündig.
Die aktuelle Europäische Union betrachtet der Frankfurter Ökonom im Wesentlichen als einen Gemeinsamen Markt mit einer aus Brüssel heraus betriebenen Umverteilungsmaschinerie, die aber nicht viel eigenständige Politik betreiben könne. Vom Subsidiaritätsprinzip ausgehend, sieht er einerseits Möglichkeiten, Kompetenzen von der Brüsseler Ebene auf die nationale Ebene zurückzuverweisen, aber er sieht im Gegenzug auch Potential für eine sinnvolle Verlagerung von Kompetenzen auf die Ebene der Union. Mit Blick auf das Deutsche Kaiserreich hat Spahn die Verteidigung und den Wohlfahrtsstaat als Politikfelder identifiziert, mit denen die Europäische Union auch in der Wahrnehmung der in ihr lebenden Menschen eine sinnstiftende Identität erhalten könnte.
Seine Gedanken zur Verteidigung setzen an der alten Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft an, mit der die Europäische Union in Kooperation mit der Nato treten könnte. Das ist vielleicht bedenkenswert, aber nicht neu. Neuer und vielleicht provozierender ist, was sich Spahn mit Blick auf den Wohlfahrtsstaat und seine Finanzierung ausgedacht hat.
Bismarck wollte mit seiner Sozialversicherung unter anderem eine „Gesinnung“ für das damals neue Reich schaffen, und Spahn hat Vergleichbares mit einer Einbeziehung der Europäischen Union in die Produktion eines modernen Wohlfahrtsstaates im Sinn. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Überzeugung, dass die heutigen beitragsfinanzierten Altersvorsorgesysteme unter anderem wegen der demographischen Entwicklung in Schwierigkeiten geraten werden. „Die Folgen sind entweder höhere Belastungen für die Jungen oder wachsende Risiken von Altersarmut“, schreibt er. „Nationale Regierungen beantworten diese Herausforderungen üblicherweise inkonsistent, indem sie kurzfristige Vergünstigungen gewähren oder zu Populismus greifen.“
Bismarck konnte seinen Wohlfahrtsstaat aus dem Stand aufbauen. Heute ginge es darum, die Nationalstaaten in der EU davon zu überzeugen, ihre strapazierten Altersvorsorgesysteme zu entkernen und ihren Kern auf die Europäische Union zu übertragen. Dieser Kern der Altersvorsorge, für den Ergänzungen auf der nationalen Ebene weiterhin möglich blieben, soll auf einheitlichen Regeln für Beiträge und Bezüge beruhen. Spahn sieht die politischen Widerstände und die Herausforderungen für die Bürokratien, aber als Ökonom betrachtet er ein Altersvorsorgesystem als ein in technischer Hinsicht nicht allzu kompliziertes Finanzprodukt.
Finanziert werden soll diese grundlegende Altersabsicherung auf Unionsebene durch Besteuerung. Das wiederum bedeutet, dass eine Europäische Union mit Steuerhoheit politisch reformiert werden müsste. Auch hierzu legt der Frankfurter Ökonom Ideen vor. Nicht alltäglich sind seine Ideen für eine Besteuerung. Da er die traditionelle Körperschaftsteuer angesichts internationaler Verlagerungen für „todgeweiht“ hält, hat er einerseits einen eigenen, vor rund 25 Jahren erstmals veröffentlichten Vorschlag aus dem Archiv geholt, den sich Finanzwissenschaftler und Steuerpolitiker auch jenseits einer eventuellen Anwendung auf europäischer Ebene anschauen könnten. Das ist die Idee einer Besteuerung nicht des Gewinns, sondern des Cashflows von Unternehmen. Mit einer solchen Steuer würde die Europäische Union ebenso wenig in unmittelbare Konkurrenz zu nationalen Steuerbehörden treten wie mit Spahns zweiter Idee einer „Steuer auf Digitales“ – ein Modethema und mit Blick auf die dramatischen Wandlungen der Wirtschaft durch die digitale Revolution zumindest weitläufig verwandt mit der „Robotersteuer“, für die sich Bill Gates einsetzt.
Wie realistisch sind solche Gedanken? Spahn hat keine Illusionen; in seiner Präsentation in Frankfurt bezeichnete er sie als „quijotesk“. Und ein wenig wie ein Don Quijote kommt sich Spahn im aktuellen Zeitgeist vor, auch wenn er hofft, nicht gegen Windmühlen, sondern für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Und wenn Spahn gelegentlich auch sein Herz auf der Zunge trägt, geht es ihm in erster Linie darum, Ideen in eine sachorientierte Debatte über die Zukunft Europas einzubringen. Wie immer man zu seinen konkreten Ideen stehen mag: dass ein Bedarf an solchen Debatten existiert, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen.