Jean-Baptiste Colbert neigte nicht zur Diplomatie. Mit der “eisernen Hand der Autorität” setzte der Finanzminister des “Sonnenkönigs” Ludwig XIV. seine Ideen um, heißt es in einer Beschreibung des Staatsdieners. Der Mann, der sich im 17. Jahrhundert aus einer Kaufmannsfamilie zur zweitwichtigsten Person im Staat hochgearbeitet hat, verfolgte dabei eine klare Agenda: Frankreich zuerst!
Um die von Kriegen und Misswirtschaft schwer gebeutelte Nation wieder “grand” zu machen, revolutionierte Colbert die Wirtschaftspolitik: Er erhöhte die Einfuhrzölle, hielt die Löhne niedrig und förderte die Produktion im Inland. Heimische Handwerker hielt er für die wahren Garanten des Wohlstands. Der Minister investierte in die Infrastruktur, ließ bessere Straßen bauen und gründete eine neue Handelsflotte. Französische Waren sollten die Welt überfluten und den Staat reich machen. Das Konzept ging auf.
Merkantilismus tauften Ökonomen diese Wirtschaftspolitik später – und ließen sie in der Mottenkiste überholter Ideen verschwinden. Der schottische Ökonom Adam Smith machte sich Ende des 18. Jahrhunderts über die in seinen Augen abwegige Vorstellung lustig, mit Protektionismus und Exportförderung für echten Wohlstand sorgen zu wollen. Denn trotz all des Goldes und Silbers, das für französische Produkte in die Staatskasse geflossen sei, hätten die Menschen nicht genug zu essen gehabt. Den Wohlstand in Edelmetall aufwiegen? Für Smith ein Irrweg. Er plädierte für das “Laissez-faire-Prinzip”, also möglichst freien Handel. Dann betrat David Ricardo die Bühne und belehrte mit seiner Theorie des “komparativen Vorteils” die Freihandelsgegner: Vom ungehinderten Warenaustausch profitieren am Ende alle Parteien.
Während Smith als Begründer der Nationalökonomie gefeiert wird und Ricardo zum Schutzheiligen des Freihandels aufgestiegen ist, werden die frühen Verfechter des Merkantilismus heute eher wie Aussätzige behandelt. Sie werden in Lehrbüchern zwar genannt, aber nicht hinreichend gewürdigt. Das kritisieren Xiao Jiang und Sohrab Behdad (beide Denison University, Ohio) in einer noch nicht abgeschlossenen Arbeit, die sie kürzlich auf der wichtigsten Ökonomenkonferenz des Jahres in Chicago präsentierten. Die Forscher singen kein Loblied auf den Merkantilismus. Sie präsentieren Colbert und seine Mitstreiter aber als wegweisende Ökonomen mit enormem Einfluss bis heute.
Zu selten werde daran erinnert, dass Merkantilisten als Erste “wegen eines inhärenten Widerspruchs im Kapitalismus” besorgt waren: niedrigen Löhnen für das Fußvolk auf der einen Seite und einer schwachen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auf der anderen. “Laut den Merkantilisten ist der Exportmarkt die Lösung für diesen Widerspruch”, schreiben die beiden Autoren. Das Geld aus dem Ausland sollte die Lücke schließen, die sich im Inland auftat, weil die Menschen nicht genug konsumierten.
Das Ziel Colberts und anderer Merkantilisten waren Handelsüberschüsse. Die Staaten sollten mehr im Ausland verkaufen als von dort importieren. Es liegt auf der Hand, dass diese Rechnung niemals für alle Staaten aufgehen kann. Denn der Überschuss des einen ist das Defizit des anderen. Vor allem langfristig kann das zu gefährlich hohen Schuldenbergen führen, sagen Ökonomen heute.
Das mindert aber nicht die Leistung von damals. Denn die moderne Sichtweise, die ein Interesse am Wohl anderer Staaten voraussetzt, war dem Finanzminister des Sonnenkönigs fremd. Die jungen Nationalstaaten von damals hatten ganz andere Probleme als die Schulden des Nachbarn: den nächsten Krieg, die leere Staatskasse, das neue Prunkschloss des Königs. Unter diesen Vorzeichen war der Merkantilismus also durchaus eine erfolgversprechende Strategie.
Heute klingt es fragwürdig, ein Wirtschaftsmodell auch darauf aufzubauen, breite Massen von den Früchten ihrer Arbeit fernzuhalten. Damals aber habe kein Herrscher ein Interesse daran gehabt, große Schichten des Volkes reich zu machen. Im Gegenteil: “Jeder Idiot weiß, dass die untere Klasse arm gehalten werden muss, oder sie wird niemals fleißig”, schrieb der englische Publizist Arthur Young 1771. Hinter dieser Aussage stand nicht nur die Absicht, die Menschen zu gefügigen Arbeitern zu machen. Es ging auch damals schon um die Arbeitskosten: In der Zeit vor der industriellen Revolution spielten sie im Vergleich zu den Kosten für Maschinen eine noch bedeutendere Rolle. Um den Produktionsprozess profitabel zu halten, “war es der Schlüssel für alle Kapitalisten, die Arbeitskosten niedrig zu halten”, schreiben Jiang und Behdad.
Die rein national gedachte Wirtschaftspolitik machte Frankreich zur Wirtschaftsmacht. Ein Erfolgsmodell für die Weltwirtschaft wurde aus dem Merkantilismus aber nicht. Denn die Staaten handelten eher gegen- als miteinander. “Kein Wunder, dass es permanente Handelskriege zwischen den Staaten gab, die eine merkantilistische Strategie verfolgten”, bilanzieren die Forscher.
Große Wohlstandsgewinne für alle kamen erst später: durch Innovationen, Globalisierungsschübe und die Einsicht, dass Handel kein Nullsummenspiel ist. Heute weiß man, dass Handel den Kuchen, den es zu verteilen gibt, vergrößern kann. Dieser Fortschritt bedeutet aber längst nicht, dass die merkantilistische Denkweise aus den Köpfen verschwunden ist. Mitte der sechziger Jahre konstatierte die britische Ökonomin Joan Robertson: Den eigenen Anteil am Welthandel zu vergrößern sei “ein integraler Teil der Wirtschaftspolitik einer jeden Regierung”.
In den vergangenen Dekaden war dieses Bestreben nirgends so deutlich zu sehen wie in China. Die Volksrepublik hat ihren gewachsenen Wohlstand ihrem exportgetriebenen Wachstumsmodell zu verdanken. Während ausländischen Unternehmen das Leben erschwert wurde, stieg China zum Exportweltmeister auf. Die Löhne blieben aber lange Zeit sehr niedrig. Auf Dauer kann das nicht gutgehen, erkannte die Zentralregierung schließlich. Mit einem großen Kraftakt versucht das Land, sich von der Exportanhängigkeit zu lösen und die Menschen am Wohlstand teilhaben zu lassen – wie sich zeigt, mit beträchtlichen Schwierigkeiten.
Die Forscher Jiang und Behdad loben die intellektuelle Leistung der Merkantilisten. Eine Renaissance wünschen sie sich nicht. Doch genau die gibt es gerade. Würde Jean-Baptiste Colbert noch leben, hätte er gute Chancen, noch einmal zum zweitwichtigsten Mann im Staat aufzusteigen. Dieses Mal aber nicht in Versailles, sondern im Weißen Haus.