Der Ökonom und ehemalige Geldpolitiker Stefan Gerlach beklagt in einem Zeitungsbetrag, “die wenigsten Journalisten und Marktteilnehmer wissen, wie Notenbanker in der Praxis eigentlich ihre Politik festlegen” – und verweist auf sechs besonders verbreitete Missverständnisse.
Gerlach ist ein erfahrener Mann, der in Hongkong und in Irland Geldpolitik betrieben, in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Geldpolitik erforscht und sie unter anderem an der Goethe-Universität in Frankfurt gelehrt hat. Sein sehr interessanter Beitrag ist in der “Handelszeitung” in der Schweiz erschienen. Im Folgenden bringen wir Gerlachs Anmerkungen in kursiver Schrift- verbunden mit eigenen Bemerkungen zu seinen sechs Punkten.1
1. Die Bedeutung einzelner Datenpunkte –
“Zeitungs- und Marktkommentatoren konzentrieren sich zu stark auf die Veröffentlichung bestimmter Daten. Weil sich eine einzige wirtschaftliche Variable – etwa der positive Trend bei den Beschäftigungszahlen in den Vereinigten Staaten – in den letzten Monaten überraschend verändert hat, wird bisweilen behauptet, dass die Zentralbank ihren Kurs ändern werde. Manchmal wird geschrieben, dass ein einziger Datenpunkt – wie beispielsweise die unerwartet hohe Konsumentenpreisinflation im Euro-Raum im letzten Dezember – zu einem geldpolitischen Kurswechsel führen werde. Dem ist nicht so. Bei der Festlegung der Geldpolitik müssen Zentralbanken wirtschaftliche Veränderungen über einen längeren Zeitraum im Voraus antizipieren. Die verfügbaren Daten dazu sind immer unklar und oft widersprüchlich. Häufig zeigen sich sprunghafte, wenig aussagekräftige Veränderungen. Geldpolitiker stützen sich auf unzählige Daten, um ein Mosaik der Wirtschaft zu erstellen. Sie ändern ihre Meinung deshalb nicht aufgrund einer einzigen Zeitreihe.”
Stefan Gerlach hat Recht: Viele Kommentatoren neigen stark dazu, einzelne Wirtschaftsdaten zu beachten (und vor allem gerne jene Daten, die ihnen ihr Weltbild zu bestätigen scheinen), aber Geldpolitiker schauen auf viele Daten, wie in diesen Tagen Neel Kashkari anhand einer Erläuterung seines Stimmverhaltens in der jüngsten Sitzung des Offenmarktausschusses der Fed einprägsam gezeigt hat.
Aber: Geldpolitiker tragen erheblich zu der Konfusion bei, die in der Öffentlichkeit beim Umgang mit Daten zur Geldpolitik entstanden ist – gerade die moderne datenbasierte Verwissenschaftlichung der Geldpolitik sorgt dafür. Das Konzept der “Forward Guidance” hat dazu auch beigetragen wie Beliebigkeit bei der Frage, was eigentlich die relevante Inflationsrate ist. Und last not least: Der Auftrag der Geldpolitik besteht in der Erfüllung einfach quantifizierbarer Ziele.
Hier ist ein Beispiel für die Konfusion. Im August 2013 kündigte der damals neue Gouverneur der Bank of England, Mark Carney an, Erhöhungen des Leitzinses würden erst erwogen, wenn die Arbeitslosenquote auf 7 Prozent falle. Damit wollte Carney ein geldpolitisches Instrument namens “Forward Guidance” installieren – die Erwartungen an die Geldpolitik unter anderem von Journalisten und anderen Marktkommentatoren sollen durch in die Zukunft reichende Aussagen von Geldpolitikern gelenkt werden. “Forward Guidance” war damals im Rahmen neokeynesianisch geprägter Geldpolitik nicht neu, aber sie war knapp ein Jahr zuvor durch den akademischen Papst neokeynesianischer Geldpolitik, Michael Woodford, auf der geldpolitischen Tagung in Jackson Hole besonders herausgestellt und empfohlen worden. Carney erschien als Bannerträger moderner geldpolitischer Gelehrsamkeit. Schon wenige Monate später war die britische Arbeitslosenquote nicht nur zu Carneys Überraschung fast auf 7 Prozent gefallen, aber eine Diskussion um eine Leitzinserhöhung wollte er nicht führen. Nun kündigte Carney für den Februar 2014 eine “Forward Guidance” an, die sich nicht mehr nur an einer Größe wie der Arbeitslosenquote ausrichten sollte.
Manche Geldpolitiker und manche Kommentatoren tragen erheblich zur Konfusion über die relevante Inflationsrate bei. Die Europäische Zentralbank verwendet als Inflationsziel einen breit gefassten Konsumentenpreisindex, Fachleute sprechen von einer “Headline-Inflation”. Als diese Inflationsrate deutlich unter die Zielrate von knapp 2 Prozent fiel und sogar vorübergehend die Null-Linie unterschritt, rechtfertigte die EZB damit ihre expansive Geldpolitik. Nunmehr befindet sich die Inflationsrate auf oder sogar leicht über der Zielrate. Plötzlich verweisen manche Geldpolitiker und Kommentatoren darauf, dass die um schwankungsanfällige Energie- und Nahrungsmittelpreise bereinigte Inflationsrate, Fachleute sprechen von “Core-Inflation”, ja immer noch bei knapp 1 Prozent verharre und deshalb die Geldpolitik nicht gestrafft werden dürfe. Eine derartige Inkonsequenz sollte weder Geldpolitikern noch Kommentatoren unterlaufen.
Wie ginge es besser? Man könnte in der geldpolitischen Analyse ganz altmodisch zwischen geldpolitischen Zielen (wie Inflationsrate und/oder Arbeitslosenquote) und geldpolitischen Zwischenzielen (wie Zinssätzen oder Geldmengen) unterscheiden. Es macht schon einen Unterschied, ob man von einem Ziel oder von einem Zwischenziel spricht. Die Verletzung eines Ziels sollte immer einen Erklärungsbedarf auf Seiten der Geldpolitik erzeugen, auch wenn es sich nur um ein Datum handelt – aber eben um ein entscheidendes Datum.
2. Die Rolle einzelner Persönlichkeiten –
“Der Rolle einzelner Persönlichkeiten und der Uneinigkeit zwischen geldpolitischen Entscheidungsträgern wird eine zu große Bedeutung beigemessen. Journalisten und Marktkommentatoren spekulieren gerne darüber, wie Fed-Chefin Janet Yellen auf die Wirtschaftspolitik des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump oder wie der EZB-Vorsitzende Mario Draghi auf die Kritik aus Deutschland an der Notenbankpolitik reagieren könnten. Sie blenden dabei aus, dass die Geldpolitik von Ausschüssen bestimmt wird. Zwar stehen die Chefs an der Spitze dieser Gremien. Doch sie legen die Geldpolitik nicht alleine fest. An der Kursbestimmung sind alle Ausschussmitglieder beteiligt. Die Einschätzungen der einzelnen Mitglieder im Hinblick auf die angemessene Geldpolitik gehen oft auseinander, eben weil die Daten unsicher und häufig widersprüchlich sind. Nur dann, wenn die Geldpolitik ganz offensichtlich falsch ist, werden sich alle Ausschussmitglieder einig sein, dass der Kurs geändert werden muss. Dies sollte allerdings nicht zu häufig vorkommen.”
“… whatever it takes.” Wenn dereinst eine Geschichte der Geldpolitik geschrieben werden sollte, haben diese drei Wörter alles Aussicht, zu den wirkmächtigsten erklärt zu werden, die jemals ein Geldpolitiker gesprochen hat. Wer weiß, ob ein anderer EZB-Präsident als Mario Draghi in jenem kritischen Sommer 2012 eine ähnlich klare – und verpflichtende (!) – Aussage getroffen hätte. Die aus damaliger Sicht geradezu brutale Geldpolitik der Vereinigten Staaten ab 1979 ist nicht zufällig mit dem Namen Paul Volcker verbunden und Mark Carney wurde an die Spitze der Bank of England berufen, weil man sich von ihm eine stärker am Mainstream ausgerichtete Politik und Kommunikation versprach als von seinem Vorgänger. Den berühmten Brief, den der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet und Draghi als Gouverneur der Banca d’Italia an den seinerzeitigen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi geschrieben haben, hätte ein EZB-Präsident mit einem puristischeren Mandatsverständnis vielleicht nicht so verfasst.
Stefan Gerlach hat natürlich Recht: Geldpolitische Entscheidungen sind Gremien-Entscheidungen.2) Und es hat keinen Sinn, mit Hinweis auf die Nationalität eines EZB-Präsidenten provinzielle Debatten zu führen, wie auch Otmar Issing betont. Aber die auf den ersten Blick perplexe Situation ist, dass ein Präsident/Gouverneur einer Notenbank eine sehr starke Stellung besitzt, obgleich er anders als der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft kein Mitglied seines Führungsgremiums aussuchen oder feuern kann. Aber eine Notenbank kann nur funktionieren, wenn ein Führungsgremium seinen Chef nicht andauernd brüskiert, und das gibt ihm eine herausgehobene Stellung. Die hat er unter anderem in der Kommunikation: Die Pressekonferenz der Fed-Vorsitzenden oder eines EZB-Präsidenten nach einer Gremiensitzung ist oft interessanter als die Gremienentscheidung. Vielleicht sollte man zudem in der Bedeutung einzelner Persönlichkeiten zwischen großen Notenbanken mit erheblichem Handlungsspielraum und kleineren Notenbanken, die ihre Politik über ein Wechselkursziel an eine große Notenbankpolitik straff binden, unterscheiden. In einem Land wie Dänemark, dessen geldpolitische Ratio alleine die Sicherung des Wechselkurses bildet, mag die Bedeutung der Persönlichkeit geringer sein.
3. Die Ziele der Notenbanken –
“Kommentatoren sind immer wieder davon überzeugt, dass Zentralbanken heimliche Ziele verfolgen. Die heutigen Zentralbanken bemühen sich aber sehr, transparent zu sein. Sie veröffentlichen Protokolle und Zusammenfassungen ihrer Diskussionen. Es ist für sie in der Praxis schlicht unmöglich, heimliche Ziele zu verfolgen. Dennoch neigen Beobachter zu Verschwörungstheorien. Dabei geht es oft – wie könnte es auch anders sein – um Wechsel- und Aktienkurse oder um die Vorstellung, dass es so etwas wie einen «Greenspan-Put» gibt (damit war in den 1990er Jahren die Idee gemeint, dass der ehemalige Fed-Chef Alan Greenspan bei fallenden Aktienkursen marktstützend eingreifen würde). Wechsel- und Aktienkurse reagieren unvermittelt auf die Geldpolitik und lassen sich besonders schwer steuern. Sie stellen nur selten geldpolitische Ziele dar. Gegenteilige Behauptungen sind für geldpolitische Entscheidungsträger sehr frustrierend.”
Das stimmt. Der Geldpolitik werden immer wieder heimliche Ziele zugesprochen, deren Existenz externe Kommentatoren nicht zwingend beweisen können. So sind deutsche EZB-Kritiker nicht nur aus dem Journalismus der Auffassung, das Anleihekaufprogramm diene vorwiegend der Staatsfinanzierung südeuropäischer Länder, auch wenn es keine offizielle Stellungnahme der EZB gibt, die dies belegt, und man überdies zeigen könnte, dass die EZB-Geldpolitik in ein modernes Lehrbuch passte (was viele Kritiker vermutlich gar nicht wissen). Und es gibt Kommentatoren, die schnappatmerisch “Währungskrieg! Währungskrieg!” keuchen, sobald eine Notenbank ihre Geldpolitik lockert. Das mag aus der Sicht von Geldpolitikern manchmal frustrierend sein. Aber Gerlach macht sich die Sache zu einfach. Drei Punkte:
- Es gibt wahrscheinlich keine Notenbank, die den Wechselkurs nicht zumindest als geldpolitisches Datum benutzt. Es kann eine Verlockung geben, den Wechselkurs auch zumindest vorübergehend als geldpolitisches Instrument zu nutzen, auch wenn er nicht vollständig steuerbar ist. Der Versuch der Beeinflussung von Wechselkursen durch öffentliche Äußerungen von Geldpolitikern und/oder Wechselkursinterventionen von Notenbanken ist vor allem in den achtziger und neunziger Jahren verbreitet gewesen, auch wenn der Wechselkurs keine offizielle Zielgröße war.
- Die Fed unter dem damals neuen Vorsitzenden Alan Greenspan hat in der Stabilisierung des Aktienmarktes im Jahre 1987 eine aktive Rolle gespielt. Dies ist unter anderem durch Äußerungen Greenspans dokumentiert. Dass daraus auch in den Medien über Jahrzehnte Geraune über ein “Plunge Protection Team” entstanden ist, mag zu viel der Ehre sein ebenso wie die Vorstellung, es gäbe präzise Aktienkurs- oder Wechselkursziele oder einen genau definierten “Greenspan-Put”. Aber eine Geldpolitik, die gleichzeitig Finanzmarktstabilitätspolitik ist und – wie es Ben Bernanke ausdrücklich getan hat – sich bei Anleihekaufprogrammen auf akademische Arbeiten von James Tobin, Milton Friedman sowie Karl Brunner und Allan Meltzer beruft, will aktiv Vermögenspreise steuern, um private Portfolio-Entscheidungen zu beeinflussen. Änderungen von Vermögenspreisen sind die Grundlage der makroökonomischen Portfoliotheorie.
- Wenn, und durchaus aus geldpolitischen Gründen, eine Notenbank Vermögenspreise beeinflussen will, darf sie sich nicht wundern, wenn auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene die Frage gestellt wird: Cui bono? Aus der Tatsache, dass in der Vergangenheit selten über Verteilungseffekte von Geldpolitik öffentlich diskutiert worden ist, folgt ja nicht, dass es keine Verteilungseffekte gäbe. Wobei das Thema für Fachleute nicht wirklich neu ist – man denke an den uralten Cantillon-Effekt.
4. Der Stellenwert von Forschungsarbeiten –
“Die Bedeutung der neuesten Forschung für die Geldpolitik wird übertrieben. Ein aktuelles Beispiel: Studien zufolge soll es vorteilhaft sein, wenn die Federal Reserve für eine High Pressure Economy sorgt, also eine sehr expansive Geldpolitik betreibt, damit Arbeitskräfte, die während der Großen Rezession aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, vom Arbeitsmarkt wieder absorbiert werden. Notenbanker können diese Idee durchaus nachvollziehen. Doch leider hat ein Großteil der Forschung eine Halbwertszeit von wenigen Jahren. Will sich die Zentralbank durch Urteilsvermögen und Glaubwürdigkeit auszeichnen, dann sollte der Forschung, die schon bald veraltet sein könnte, keine große Bedeutung beigemessen werden.”
Geldpolitiker kommunizieren sehr viel durch Vorträge. Sie erreichen selten die breite Masse, werden aber von Spezialisten verfolgt, die – wie Journalisten, Ökonomen oder Finanzmarktteilnehmer – auch Multiplikatoren sein können. Im Herbst vergangenen Jahres erwähnte Benoit Coeuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, in einem Vortrag eine Arbeit von Markus Brunnermeier zu Zinsuntergrenzen, deren Grundzüge Brunnermeier kurz zuvor unter anderem in der EZB vorgetragen hatte, deren Manuskript bis heute aber nur als Fragment vorliegt. Das ist kein Einzelfall. Wer Reden von Geldpolitikern verfolgt, sieht dort häufig Verweise auf aktuelle wissenschaftliche Arbeiten, die noch nicht in Lehrbüchern stehen. Dies gilt nicht nur für die stärkere Beachtung der Finanzmärkte in der Geldpolitik, die vor allem von Kritikern des herrschenden Paradigmas gefordert wird, sondern auch für moderne Arbeiten zum “natürlichen Zins”, die von neokeynesianischen Autoren stark beachtet werden.
Spielt das in der Geldpolitik eine Rolle? Vielleicht nicht in der offiziellen Strategie, denn die Notenbanken sind zumindest bisher nicht bereit, die Sicherung von Finanzstabilität in ihren Aufgabenkatalog aufzunehmen. Aber implizit spielen moderne Erkenntnisse natürlich eine Rolle. Das gilt zum Beispiel für die Berücksichtigung der Gesundheit der Banken – ein neokeynesianischen Ökonomen fremdes Thema. Die Entscheidung der Bank of Japan, die Renditen langlaufender Staatsanleihen nicht mehr in negatives Terrain fallen zu lassen, lassen sich im Verein mit negativen kurzfristigen Zinsen als ein Versuch interpretieren, eine steile Zinskurve zu garantieren, von der niemand so sehr profitiert wie Banken. Und wer in die EZB hineinhört, weiß, dass dort im vergangenen Jahr das Verständnis für die Kosten von Negativzinsen für Banken – auch kein neokeynesianisches Thema – deutlich gewachsen ist. Eine Analyse der Fed-Kommunikation der vergangenen Jahre würde wahrscheinlich zeigen, dass dort die von vielen modernen Arbeiten betonten Effekte der amerikanischen Geldpolitik auf Schwellenländer “angekommen” sind.
Ein letzter Punkt: Gerade moderne Arbeiten zu den Themen Geldpolitik und Finanzmärkte bauen nicht selten auf älteren Arbeiten auf, die ehemals Mainstream waren, aber in der Zwischenzeit verdrängt worden waren. Und die zunehmenden Aufgaben von Notenbanken in der Finanzstabilität betreffen ein Gebiet, auf dem Notenbanken schon im 19. Jahrhundert tätig waren.
5. Die Einflussmöglichkeiten auf die Wirtschaft –
“Beobachter überschätzen, wie stark die Wirtschaft auf die Geldpolitik reagiert. Bisweilen wird erzählt, dass eine Zentralbank gezwungenermassen «behind the curve» fallen, also der realwirtschaftlichen Entwicklung einen Schritt hinterherhinken wird, wenn sie ihre Geldpolitik nicht unverzüglich ändert. Doch die Wirtschaft reagiert auch auf insgesamt große Zinsänderungen nur langsam. Ob die Zinsen jetzt oder erst sechs Wochen später um 25 Basispunkte angehoben werden, spielt praktisch keine Rolle. Sollte eine Zentralbank in Rückstand geraten, kann sie immer noch das Tempo erhöhen und die Zinsen zum nächsten Datum um 50 Basispunkte anheben. Wird eine Zinsänderung gelegentlich aufgeschoben, bis sich der Nebel etwas lichtet, zieht dies kaum schwerwiegende Folgen nach sich. Vielmehr vermeiden Zentralbanken auf diese Weise, einen Zinsschritt einige Monate später wieder korrigieren zu müssen und dann der Inkompetenz bezichtigt zu werden. Dies dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb die Federal Reserve 2016 wiederholt beschlossen hatte, die Zinsanhebungen aufzuschieben.”
Milton Friedman hat die berühmte Formulierung gebracht, Geldpolitik wirke mit “langen und variablen Zeitverzögerungen”. Insofern hat Gerlach natürlich Recht: In der öffentlichen Debatte wird häufig nicht gesehen, wie lange diese Zeitverzögerungen sein können. Ein erfahrener Beobachter wie Holger Schmieding (Chefökonom von Berenberg), der seinen Friedman kennt, wundert sich beispielsweise über die aktuellen Zahlen über das Wirtschaftswachstum in der Eurozone nicht, weil er darin ein Ergebnis der vor Jahren begonnenen Lockerung der Geldpolitik sieht – während andere Chefökonomen deutscher Banken noch Ende 2016 überhaupt keinen positiven Einfluss der Geldpolitik auf das Wirtschaftswachstum erkennen konnten. Zwei Einschränkungen zu Gerlachs Analyse:
- Als in den Jahren nach der Finanzkrise in der Öffentlichkeit der auch von Regierungen geschürte Eindruck entstand, die Geldpolitik wäre die einzige handlungsfähige Form von Wirtschaftspolitik, haben die Notenbanken dem zumindest nicht energisch widersprochen. Dies mag durchaus zu Politikattentismus der Regierungen beigetragen und an den Finanzmärkten zum Teil völlig übertriebene Vorstellungen von der Allmacht von Notenbanken erzeugt haben. Die Frage, ob hier nicht auch ein Kommunikationsversagen der Notenbanken vorliegt, muss zumindest erlaubt sein. Generell reden nach meiner Wahrnehmung Notenbanken, die neben dem Preisstabilitäts- kein Konjunktur- oder Arbeitsmarktziel haben, zu viel über ihren Einfluss auf die Konjunktur und den Arbeitsmarkt. Dies weckt Erwartungen.
- In der aktuellen Debatte geht es nicht nur um den optimalen Zeitpunkt von Entscheidungen, sondern fast mehr um die verbale Vorbereitung von Entscheidungen. Man kann sich fragen, ob hier die Geduld der Beobachter nicht zu sehr strapaziert wird. Ende Dezember gebrauchte nicht zufällig ein EZB-Direktoriumsmitglied in einem Interview den Begriff “geldpolitische Normalisierung”, aber ein Vierteljahr später ist die EZB immer noch nicht in der Lage, bezüglich ihrer Instrumente symmetrisch zu kommunizieren, wie Jens Weidmann meines Erachtens zu Recht dieser Tage kritisch angemerkt hat.
6. Die Zuverlässigkeit von Prognosen –
“Journalisten und Finanzmarktkommentatoren messen Prognosen eine zu große Bedeutung bei. So meinen einige Beobachter beispielsweise, dass es angesichts der schwachen Inflationsprognosen ein Fehler gewesen sei, dass die EZB beschlossen habe, ihre monatlichen Anleiheankäufe im zweiten Halbjahr 2017 zurückzufahren. Doch die Zentralbanker wissen, dass Prognosen, die sensibel auf Annahmen hinsichtlich externer Variablen reagieren, ungenau sind. Sie können daher unterschiedlich interpretiert werden und sind mit Vorsicht zu genießen. Im Großen und Ganzen eignen sie sich eher zur Strukturierung der geldpolitischen Diskussion denn als Indikator für die Geldpolitik.”
Das stimmt sicherlich. Die EZB spricht ja auch nicht von Prognosen, sondern von Projektionen, aber solche feinsinnigen Unterschiede werden nicht von jedem Kommentator bemerkt. Andererseits kann man sich schon fragen, ob Notenbanken mit ihrer Kommunikation über mehrjährige Prognosen/Projektionen nicht wiederum Erwartungen an die Präzision solcher Einschätzungen wecken. Letztlich sind Notenbanken Teile einer an den Finanzmärkten sehr verbreiteten Prognoseindustrie, die in der Praxis oft nicht mehr ist als bloße Wahrsagerei – aber vom Publikum erwartet wird.
- Hinzugefügt sei, dass Gerlach keine Pauschalkritik betreibt: “Der Fairness halber muss gesagt werden, dass die besten Marktkommentatoren und Journalisten beeindruckendes Urteilsvermögen besitzen und über die wertvolle Fähigkeit verfügen, komplexe Sachverhalte einem breiten Publikum einfach zu erklären. Die kritische Analyse von Notenbankentscheiden ist äusserst wichtig. Sie zwingt Geldpolitiker, die öffentliche Reaktion auf ihre Entscheidungen zu berücksichtigen, genau darauf zu achten, dass ihre Entscheidungen vernünftig sind, und gründlich darüber nachzudenken, wie sie diese präsentieren möchten. Externe Beobachter halten Zentralbanker auf Trab – und sorgen so, trotz den besagten Missverständnissen, für eine bessere Geldpolitik.”
- Eine interessante Rede zu diesem Thema hat kürzlich der Fed-Vizevorsitzende Stanley Fischer gehalten.