Mehr Gerechtigkeit wird gefordert. Was ist das? Je näher man die Begriffe anschaut, desto willkürlicher erscheinen sie. Von Jürgen Kaube
Die Gesellschaft, heißt es, wird immer ungleicher, Ungleichheit sei nicht gut, Politik müsse etwas gegen sie tun. Das sind sehr allgemeine Sätze, die mit dem Hinweis auf von Ungleichheit betroffene Gruppen illustriert werden: Arme, Alte, Frauen, Hauptschüler, Einwanderer, Alleinerziehende, Großfamilien, Landbevölkerung, Ostdeutsche. Wer um konkretere Angaben bittet, wird auf wissenschaftliche Studien verwiesen. Die messen entweder Verteilungen: vor allem von Einkommen und Vermögen. Das hat den Nachteil, dass bei ungleichen oder sogar ungleicher werdenden Verteilungen nicht sichtbar ist, worauf sie zurückgehen, ob beispielsweise die Erfolgsfälle auf Investitionsverhalten, Erbschaft, Berufswahl, Diebstahl, Glück oder Immobilienbesitz gründen.
Eine andere Art, Ungleichheit zu messen, betrachtet die intergenerationelle Mobilität. Hier wird festgestellt, wo die Kinder von Eltern landen, die bestimmte Eigenschaften haben. Zunehmende Ungleichheit heißt dann, dass beispielsweise ethnische Herkunft, Einkommen, Bildungsgrad oder Wohnort der Eltern sich immer mehr in den Positionen der Kinder widerspiegeln. Die Ungleichheit kommt also von der Ungleichheit, die Ungleichheit der Zukunft aus der Ungleichheit der Herkunft, Ungleichheit verstärkt sich demnach selbst. Die Leute arbeiten sich nicht aus ihren Schichten heraus, sie arbeiten sich, so sie denn überhaupt Arbeit haben, in sie hinein. Mit diesem Befund geht bei vielen Sozialwissenschaftlern der Anspruch einher, die Ursachen der Ungleichheit benannt zu haben. Die Politik, heißt es vorzugsweise, müsse etwas gegen Bildungsarmut tun und Einkommen umverteilen.
Der amerikanische Soziologe Andrew Abbott hat gerade auf einige Denkfehler und Unehrlichkeiten in dieser schlichten Argumentation hingewiesen. Zum einen erfahren die Benachteiligten in unserer Gesellschaft schon derart früh in ihrem Lebenslauf Schwierigkeiten, dass im Durchschnitt schon die ersten sechs Lebensjahre ausreichen, um jemandem seine spätere Schichtposition vorherzusagen. Um den Einfluss von Herkunft auszuschließen und Chancengleichheit herzustellen, wäre es darum nötig, Kinder unter zufälligen Umständen aufzuziehen. Das aber hieße, sie ihren Eltern wegzunehmen – und zwar die Kinder der Benachteiligten wie die Kinder der Begünstigten. Man kann den Gedanken an dieser Stelle abbrechen.
Zum anderen, so Abbott, erweisen sich gerade die Anhänger von mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zugleich durchaus als Freunde einer bestimmten Art von Ungleichheit, nämlich der kulturellen. Wenn amerikanische Sozialwissenschaftler argumentierten, die Kinder von englischsprechenden Eltern hätten bessere Karrierechancen als die von spanischsprechenden Eltern – leicht, an dieser Stelle “englisch” durch “deutsch” und “spanisch” durch “türkisch” oder “arabisch” zu ersetzen -, dann meinten sie im Grunde, es sei wünschenswert, dass Immigranten ihre Sprache weiter pflegen. Abbott formuliert das so: Was für viele Soziologen Ungleichheit ist, sei für viele Ökonomen “Investition in Humankapital”. Man kann “Sprache” als eine solche Investition auch durch andere kulturelle Muster ersetzen, entscheidend ist, dass abermals in die Familien nicht eingegriffen werden soll. Die Familie aber reproduziert Ungleichheit.
Es gibt mithin Ungleichheiten, die erwünscht sind, und solche, für die das nicht gilt. Traditionell ist für letztere der Begriff der Ungerechtigkeit reserviert. Der gegenwärtige Gebrauch von “Ungleichheit” ist insofern nur ein sich empirisch tarnender Versuch, um eine politische Diskussion zu führen. Abbott weist auf ein untrügliches Zeichen dafür hin, dass Ungerechtigkeit und Ungleichheit nicht dasselbe sind: So gut wie niemand findet, dass es ungerecht ist, wenn Kinder nicht denselben sozialen Status haben wie ihre Eltern. Wer darum von Gerechtigkeit spricht, um mehr davon politisch herbeiführen zu wollen, muss sinnvollerweise angeben, welche Art von Ungleichheit er oder sie mit einer gerechten Gesellschaft für vereinbar hält: Ungleichheit der Berufswahl, Ungleichheit der Familienrollen, Ungleichheit der Erziehungsstile, Ungleichheit der Schulnoten, Ungleichheit der Wochenarbeitszeit?
Betrachtet man solche Ungleichheiten, ist sofort ersichtlich, dass sie der gesellschaftliche Normalzustand sind. Die Wahrscheinlichkeit von Gleichverteilung ist praktisch null. Wer beispielsweise Einkommen umverteilt, indem etwa Einnahmen aus progressiveren Steuertarifen in das Arbeitslosengeld gesteckt werden, wird dabei im Auge behalten, dass die Verwendung der umverteilten Größen selbst ungleich erfolgt. Genauso wie die Reaktionsweise derjenigen, die progressiver besteuert wurden. Es gibt darum keine Garantie, dass die größere Gleichheit, die hergestellt wurde, mehr als ein einziger Messpunkt ist. Man kann es auch so formulieren: Es gibt keine Garantie dafür, dass etwas anderes als der Steuersatz geändert wurde und nicht alle anderen unerwünschten Ungleichheiten weiterhin existieren. Dem Politiker mag der Steuersatz als Symbol genügen. Dem Wähler genügt die Sicherheit, dass er mit zusätzlichem Einkommen schon etwas Richtiges machen wird. Was beides aber mit Gerechtigkeit zu tun hat, bleibt offen.
Gleichheit, fasst Abbott zusammen, ist erstens selten und zweitens nicht messbar. Gerechtigkeitsfragen wiederum führen zur Unterscheidung von Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit. Im Horizont letzterer werden die Einkommen unterschiedlicher Berufe verglichen, ohne dass es aber jenseits der Phrase, alle Gehälter seien “Marktergebnisse”, eine Erklärung dafür gibt, weshalb eine hohe Polizistin weniger verdient als ein Filialleiter bei Aldi oder ein Maurer in der Ausbildung mehr als eine Tischlerin. Sind das Ungerechtigkeiten, oder ist die Lohnstruktur derart unübersichtlich, dass normative Erwartungen an den jeweils besonderen Auszahlungsumständen abprallen?
Was die Chancengleichheit angeht, so liegt das Problem für Abbott darin, dass der Begriff keine Bedeutung hat. Denn was wäre das Individuum, das erreichen könnte, was es will, wenn man ihm nur die Chance dazu gäbe? Was wäre vor allem das Individuum, das sich von den anderen nur durch seine Wahl solcher Chancen unterschiede? Und was wäre die Chance, die für jedes Individuum dieselbe wäre, so wie eine Tür, durch die alle nur auf dieselbe Weise hindurchgehen können? Kurz: Die ganze Debatte über Gerechtigkeit und Ungleichheit beruht auf Prämissen, an die, wenn es konkret wird, niemand glaubt. Mit dem sozialen Leben, auch mit seinen Nöten und Enttäuschungen, hat sie so wenig zu tun wie die neoliberalen Redensarten von Effizienz und Marktergebnis, von denen sie irrtümlich glaubt, sie trete ihnen entgegen.
Andrew Abbott: “Inequality as a Process”, in: ders., Processual Sociology, Chicago University Press, 2016.