Nach einer verbreiteten Ansicht gehen alternde und schrumpfende Gesellschaften in den westlichen Industrienationen mit einem fallenden Realzins einher. Zwei Ökonomen sagen: Das Gegenteil ist der Fall – wegen der Wohlfahrtsstaaten im Westen und Änderungen in China.
Änderungen in der Demografie werden drei jahrzehntelange Trends umkehren: Rückläufiges Wachstum von Löhnen und Inflationsrate, sinkende Zinsen sowie eine größere Ungleichheit zwischen Ländern bei gleichzeitig rückläufiger Ungleichheit in vielen Ländern. Diese These vertreten die Ökonomen Charles Goodhart und Manoj Pradhan in einem von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich veröffentlichten Arbeitspapier.
Wir interessieren uns in diesem Beitrag nur für das Zinsthema.
Der Rückgang des Realzinses in den vergangenen Jahrzehnten ist ein häufig – und nicht zuletzt auch in FAZIT (zum Beispiel hier, hier und hier), – diskutiertes Thema. Goodhart und Pradhan stellen die Bedeutung Chinas für das fallende Realzinsniveau in der Welt besonders heraus, weil China zunächst in die internationale Arbeitsteilung eintrat, aber nicht in die internationalen Finanzmärkte und statt dessen seine eigenen Finanzmärkte wenig entwickelte. Das sorgte für eine starke Sparneigung in China, die sogar die sehr starke heimische Investitionsnachfrage übertraf: “Thus, despite an already high Investment ratio, the savings ratio climbed even higher, creating a savings glut that channelled back into the US Treasury bond market. On both counts, real interest rates outside China fell as ex ante Investment fell relative to ex ante savings.”
Das ist nicht neu, aber ungewöhnlich ist die Argumentation der beiden Autoren, warum sie von dem in Gang kommenden demografischen Wandel in den Industrienationen und in China ein steigendes Realzinsniveau erwarten. Denn häufig wird entgegengesetzt argumentiert: Alternde und schrumpfende Gesellschaften gehen mit einem bestenfalls niedrigen Wirtschaftswachstum einher, was gleichbedeutend mit jedenfalls niedrigen und eventuell noch weiter fallenden Realzinsen geht.
Goodhart/Pradhan sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Der Realzins wird steigen, obgleich alternde und schrumpfende Gesellschaften mit einer fallenden Investitionsnachfrage einhergehen. Ihr Punkt lautet: Die Sparneigung wird noch stärker fallen als die Investitionsnachfrage. Und: die Bedeutung des Wirtschaftswachstums für den Realzins wird überschätzt: “Rather than use growth as the determinant of the equilibrium real interest rate, we use the standard classical theory that in the medium and long run (after the temporary effect of central bank policy on local real short-term rates dissipates), real interest rates move to adjust differences in ex ante savings and ex ante investment, falling when desired savings are greater than desired investment, and vice versa. So the declining trend in real interest rates over recent decades, from 1980–2015, is prima facie evidence that ex ante savings have exceeded ex anteinvestment over this period.”
Ihr nächster Punkt lautet, dass es in einer globalisierten Wirtschaftswelt keinen Sinn hat, auf nationaler Ebene nach Antworten zu suchen: “Rather than looking for explanations of falling real rates in any one country at a time, the focus needs to be on the global factors. Ex post, savings have to equal investment in a closed economy, ie the world.”
Warum nun sollen in einer alternden Gesellschaft die Sparwünsche schneller fallen als die Investitionswünsche? Zwar läuft das Lebenszyklusmodell darauf hinaus, dass Menschen in ihrer aktiven Zeit genügend sparen, um im Alter ausreichende Konsummöglichkeiten zu haben, aber die Menschen könnten sich in einer Zeit, in der die Lebenserwartung schneller zunimmt als das Ruhestandsalter und im Wissen um häufig sehr hohe Gesundheitskosten gerade in der allerletzten Lebensphase, dafür entscheiden, weniger zu konsumieren und angesichts der möglichen Gesundheitskosten zusätzlich zu sparen.
Nein, sagen Goodhart/Pradhan: Der von ihnen angenommene Beibehaltung der Wohlfahrtsstaaten wird das verhindern: “Our key political economy assumption is that the safety net will remain in place, keeping savings from rising proportionally with longevity. While there is bound to be some scaling back on commitments, the pension and health care safety net will more or less remain in place. This will be incorporated into the savings habits of individuals, keeping them from saving more in anticipation of retirement.”
Das ist die Prognose für die Industrienationen. Ein zweiter Grund, warum die Sparwünsche in der Welt schnell fallen dürfen, liegt in China begründet: “Demographics will ensure that China’s extraordinary savings will fall. Prior to modern times, the (relatively few) old in China were cared for in the extended Family. But the one-child policy, extended for too long, has meant that support has gotten more and more scarce for the aged. With an insufficient social safety net, personal savings rose to plan for retirement. Add to this the incentive on the managers of state-owned enterprises to retain, rather than pay out, profits, and the explanation of these extraordinary savings ratios becomes clearer.”
Nach einem alten Bonmot sind Prognosen bekanntlich besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Das Thema “Demografischer Wandel und Realzins” ist vielschichtig und interessant – vielleicht gerade, weil die Antworten nicht offensichtlich sind.
Dem Arbeitspapier liegt ein Vortrag auf einer BIZ-Konferenz im Sommer 2016 zugrunde. Damals gab es Co-Referate von Masaaki Shirakawa und Alan Auerbach.