Heute schon gelogen? Wer darauf stets mit Nein antwortet, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Schwindler. Zwei Lügen am Tag sind ein wissenschaftlich bestätigter Durchschnittswert. In dieser Rechnung sind höflich dahingelogene Floskeln (“Danke, mir geht’s gut!”) nicht mitgezählt, sondern nur echte Lügen. Also bewusste Falschaussagen, die darauf zielen, bei einer anderen Person einen falschen Eindruck zu erzeugen.
Wir sind also chronische Lügner. Dabei wird uns schon als Kind eingebleut, bloß nicht zu schwindeln. Auch die Mahnung in den Zehn Geboten (“Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinem Nächsten!”) lässt uns offensichtlich weitgehend kalt. Und das schon seit Jahrtausenden. Warum sonst sollte das Thema in der Bibel so prominent vorkommen?
Normale Menschen fragen sich an dieser Stelle: Weshalb lügen wir so oft? Ökonomen ticken anders, sie drehen die Sache um und wollen wissen: Warum lügen wir nicht noch viel mehr, wenn das Vorteile für uns hätte? Denn zumindest der Homo oeconomicus, der in den Wirtschaftswissenschaften lange unangefochtene skrupellose Modellmensch, tut alles, was sich für ihn auszahlt. Deshalb erforschen Wirtschaftswissenschaftler die Ökonomie des Lügens bis ins letzte Detail. Ein weiterer Grund dafür: Schwindeleien und Betrug haben das Zeug dazu, Vertrauen zu zerstören. Ohne Vertrauen macht kein Mensch ein Geschäft mit einem anderen. Deshalb ist es extrem wichtig, herauszufinden, wer in welcher Situation zum Lügen neigt und was die Ursachen dafür sind.
Um der Wahrheit über das Lügen auf die Spur zu kommen, haben die amerikanischen Forscher Uri Gneezy, Agne Kajackaite und Joel Sobel mehr als 900 Probanden ein einfaches Spiel spielen lassen. Jeder Teilnehmer musste eine Nummer ziehen, die von eins bis zehn variieren konnte. Mal mussten die Spieler davon ausgehen, dass ein Dritter die gezogene Zahl kannte. Mal konnten sie sicher sein, dass nur sie selbst über die Zahl Bescheid wussten. Anschließend wurden die Spieler gefragt, welche Nummer sie erwischt haben. Wer “Vier” sagte, bekam vier Euro ausgezahlt, für eine “Acht” gab es acht Euro und so weiter.
Der Anteil der Lügner war beträchtlich. Selbst in der Variante, in der sich die Spieler beobachtet fühlten, gab fast jeder Dritte eine zu hohe Zahl an. Dabei zeigten sich klare Muster: Von denjenigen, die eine Eins gezogen hatten, log fast jeder Zweite; bei denen mit einer Neun waren es nur fünf Prozent. Je kleiner die echte Zahl war, desto höher also die Wahrscheinlichkeit einer Lüge. Drei von vier Spielern, die in dieser Spielvariante die Unwahrheit sagten, nannten die Zehn, um die größtmögliche Auszahlung zu bekommen. Wir sind also verführbar, wenn es darum geht, uns durch eine Schwindelei so viel Geld wie möglich zu sichern.
Allerdings schreckten einige Lügner vor diesem größtmöglichen Betrug zurück. 14 Prozent der Spieler nannten die Neun und nicht die Zehn. In der Variante, in der sich die Spieler unbeobachtet fühlten, lag dieser Anteil sogar bei 22 Prozent, was die Forscher in ihrer zentralen Vermutung bestätigte: Wir haben große Angst um unsere Reputation, das diszipliniert. Im konkreten Fall mache sich nämlich in der Spielvariante ohne Mitwisser vor allem derjenige verdächtig, ein Betrüger zu sein, der dem Spielleiter die Zehn nennt. Mit einer Neun wirke man viel ehrlicher. In der anderen Variante könne es dem Lügner hingegen egal sein, ob er die Neun oder Zehn nennt – er ist so oder so für andere als Lügner identifizierbar. Vor allem aus Angst um unseren guten Ruf, so die Schlussfolgerung, lügen wir lieber ein klein wenig als so viel wie möglich.
Damit widersprechen die Forscher einer früheren Studie, in der verhältnismäßig kleine Lügen damit begründet wurden, dass wir unser Selbstbild als ehrliche Menschen nicht zerstören wollen. Zu der neuen These, die demnächst im Fachjournal “American Economic Review” veröffentlicht werden soll, passt, dass in der Variante des Spiels, in der niemand den Spielern über die Schulter schaute, insgesamt mehr geschummelt wurde. Die Spieler ließen sich hier im Schnitt 7,81 Euro auszahlen. Fühlten sie sich beobachtet, waren es 7,02 Euro.
All das beantwortet aber noch nicht die Frage, warum manche Menschen grundsätzlich ehrlich sind, andere aber nicht. Offenbar lässt sich diese Frage auch nach jahrelanger Forschung nicht so einfach beantworten. Nils Stieglitz, Professor an der Frankfurt School of Finance & Management, hat gemeinsam mit zwei Ko-Autoren 63 einschlägige Studien ausgewertet. Dabei bestätigte sich zwar, dass es in vielen Experimenten einen nicht unerheblichen Anteil an Menschen gab, die entweder fast durchgängig betrügen oder fast durchgängig die Wahrheit sagen. Wie der typische Lügner aussieht, klärt aber auch diese Untersuchung nicht auf. Frauen sind im Schnitt etwas ehrlicher als Männer, Nichtökonomen lügen seltener als Ökonomen, zeigt Stieglitz, aber sonst gibt es kaum Anhaltspunkte, die man auf einen Steckbrief schreiben könnte. “Ehrlichkeit scheint keine feste Charaktereigenschaft zu sein”, schließen die Forscher. Vielmehr gebe es eine Vielzahl psychologischer und sonstiger Einflussfaktoren, die unser Verhalten prägen.
Macht vielleicht die religiöse Erziehung einen Unterschied? Das haben die Forscher Shaul Shalvi und David Leiser vor wenigen Jahren untersucht. Sie verglichen die Einstellungen und das Verhalten von sehr religiösen und nichtreligiösen Studenten. Sie wollten wissen, ob der Glaube zu strengeren moralischen Urteilen und größerer Ehrlichkeit führt. Das Ergebnis: Zwar verurteilten die religiösen Studenten unehrliches Verhalten sehr viel schärfer als ihre Kommilitonen, die nicht an Gott glaubten. Die Forscher fanden aber so gut wie keine Hinweise darauf, dass sich die Gläubigen auch ehrlicher verhielten. Vergleicht man dieses Ergebnis mit ähnlichen Studien, ergibt sich ein gemischtes Bild: Religiosität kann in bestimmten Fällen die Ehrlichkeit erhöhen, sie tut es aber nicht zwangsläufig.
Die Wahrheit ist also, dass noch viel zu tun bleibt, um der Lüge ganz auf den Grund zu gehen. Abschaffen wird man sie wahrscheinlich niemals können. Und das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Denn würde immer unverblümt die Wahrheit gesagt, würde die Welt womöglich viel schlechter funktionieren als mit der einen oder anderen Lüge.