Der Eindruck täuscht nicht. In diesem Jahr tobt die Grippewelle besonders heftig. Was können Ökonomen dazu sagen?
Ein Blick in die vollbesetzten Wartezimmer oder die ausgedünnten Büros genügt eigentlich schon für die Diagnose. Den wissenschaftlichen Beleg gibt es auf den Internetseiten des Robert Koch Instituts, das die Influenzafälle in Deutschland registriert. Woche für Woche veröffentlichen die Fachleute eine Deutschland-Karte, die den Großteil des Jahres blau eingefärbt ist, was für wenige Grippefälle spricht. Seit Jahresbeginn hat sich diese Karte immer weiter verfärbt, inzwischen ist sie knallrot. Nur noch in Bayern gibt es ein paar Flecken, in denen die Zahl der Grippefälle nicht stark erhöht ist. Auch der “Praxisindex” schlägt stärker aus als in den Vorjahren. 2,5 Millionen Menschen besuchten innerhalb einer Woche mit einer akuten Atemwegserkrankung einen Arzt, schätzt das Institut. Der Chef der Kassenärzte, Andreas Gassen, warnte deshalb in der F.A.Z.: “Teilweise gelangen die Praxen an ihre Kapazitätsgrenzen.” Vorsorglich bittet er um Verständnis, “falls Terminplanungen aufgrund des Ansturms auf die Praxen kurzfristig verändert werden müssen”.
In erster Linie ist es natürlich Sache der Mediziner, die tückische Viruserkrankung einzudämmen, die allein in der Vorsaison 723 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hat. Doch auch Gesundheitsökonomen können einen Anteil leisten. Sie entwickeln zwar weder Impfstoffe, noch verordnen sie hustenden Patienten Bettruhe. Sie können aber große Datenmengen auswerten und so auf Zusammenhänge stoßen, die einem einzelnen Arzt in seiner Praxis verschlossen bleiben.
Dass kalte und trockene Luft die Verbreitung der Grippeviren begünstigt und die Krankheitszahlen deshalb regelmäßig in den Wintermonaten hochschnellen, ist lange bekannt. Aber was hat der Sonnenschein mit den Grippeerkrankungen zu tun? Dieser Frage gehen die Ökonomen David Slusky (University of Kansas) und Richard Zeckhauser (John F. Kennedy School, Harvard University) in einer gerade veröffentlichten Studie nach. Ihr Ergebnis: Eine ganze Menge. “Wir haben herausgefunden, dass Sonnenlicht stark gegen Grippe schützt”, schreiben die beiden Forscher.
Das wusste zwar schon die eigene Oma, Slusky und Zeckhauser aber haben es nun nachgewiesen. Für ihre Untersuchung haben sie ausgewertet, wie intensiv die Sonne in den amerikanischen Bundesstaaten über mehrere Jahre hinweg geschienen hat. Wie nicht anders zu erwarten, konnten Texas und Kalifornien deutlich mehr Sonnenstunden vorweisen als beispielsweise North Dakota und Illinois. Diese Daten verglichen sie mit den Grippefällen, die auch in den Vereinigten Staaten genau erfasst werden. Die erste, grobe Analyse fiel unspektakulär aus: Es gibt Sonnenstaaten mit überdurchschnittlich vielen Grippekranken, genauso gibt es eher düstere Staaten, in denen die Grippe nicht sonderlich verbreitet ist. Bei genauerem Hinsehen konzentrierten sich die Ökonomen dann aber auf die Sonnenstunden im August und September – und entdeckten einen interessanten Zusammenhang: “Für diese Monate führt ein Anstieg des relativen Sonnenlichts zu einem Rückgangs des Influenza-Index im September um 3 Punkte auf einer 10-Punkte-Skala.” Einfacher gesagt: Wer im Spätsommer mehr Sonne tankt, bekommt im Herbst seltener Grippe.
Was hinter diesem Zusammenhang steckt? Für die Forscher liegt das auf der Hand: Vitamin D. Eine ganze Reihe medizinischer Studien zeigt, dass Vitamin D in gewissem Maß vor Grippe schützt. Wer viel Fisch isst oder entsprechende Nahrungsergänzungsmittel schluckt, verbessert seine Chance, gesund durch den Winter zu kommen. Ein weiterer Weg, den eigenen Vitamin-D-Haushalt auf Vordermann zu bringen, ist es, Sonne zu tanken. Denn UV-B-Anteile im Sonnenlicht führen dazu, dass sich in der menschlichen Haut der schützende Stoff bildet.
Positive Auswirkungen hat das den Forschern zufolge besonders im Spätsommer. Die Wissenschaftler halten den Schutz durch die Sonne sogar für effizienter als den durch Vitamin-Tabletten. “Wenn 100 Leute in einer Stadt mit 10000 Einwohnern Vitamin D zu sich nehmen, hat das so gut wie keine externen Schutzeffekte”, schreiben sie. Scheint die Sonne hingegen mehr als sonst, bilde ein sehr viel größerer Anteil der Einwohner Vitamin D, die Ansteckungsgefahr sinke und es komme zu einer “Herden-Immunität”. Die Forscher kommen außerdem zu dem Schluss, dass die Sonne und das Vitamin D besonders effektiv in Regionen schützen, in denen die Bevölkerungsdichte weder besonders hoch noch besonders gering ist.
Das alles ist nicht nur für einzelne Patienten von Bedeutung, sondern auch für die Wirtschaft. Denn volkswirtschaftlich verursacht jede Grippewelle erhebliche Kosten. In den Vereinigten Staaten summierten sich diese zuletzt auf 87 Milliarden Dollar in einem Jahr, rechnet die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC vor. Das Statistische Bundesamt beziffert die Kosten für Atemwegserkrankungen in Deutschland für das Jahr 2015 auf mehr als 19 Milliarden Euro. Darunter fallen zwar nicht nur Grippefälle, aber die Größenordnung ist beträchtlich. Ob das Wirtschaftswachstum darunter leidet, ist trotzdem schwer zu sagen. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft hält es für wahrscheinlich, dass sich die Grippewelle nicht in den Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung niederschlagen wird. Zum einen übernehmen die verbliebenen Arbeitskräfte häufig die liegengebliebene Arbeit der erkrankten Kollegen. Zum anderen lassen die Grippekranken die Einnahmen der Apotheker, Ärzte und wahrscheinlich auch der Essenslieferanten steigen.
Es gibt aber auch Ökonomen, die anderes vermuten. Als die Grippewelle in Chile im Jahr 2009 besonders stark ausfiel, sei das Arbeitsangebot wegen der vielen Krankheitsfälle aufs ganze Jahr gerechnet um 0,2 Prozent zurückgegangen, mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaft, zeigen Forscher aus Chile und Amerika. Weitere Untersuchungen legen nah, dass Kinder, die im Mutterleib Grippeviren ausgesetzt waren, später weniger verdienen und häufiger krank werden als Kinder gesunder Mütter.
Wer sich und seinen Kollegen etwas Gutes tun will, bleibt jedenfalls zu Hause, sobald der Hals kratzt und die Stirn glüht. Denn Ansteckungen zu vermeiden ist das oberste Gebot. Das ist auch im Sinne der Arbeitgeber. Deshalb zahlt er oder die Krankenkasse fast überall in der industrialisierten Welt auch an Krankheitstagen Lohn. Die Forscher Slusky und Zeckhauser empfehlen zudem Spaziergänge an der frischen Luft – vor allem, wenn die Sonne scheint.