Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Norden wird zu Italiens Problem

In einer verbreiteten Wahrnehmung steht in Italien ein wirtschaftlich dysfunktionaler Süden einem prosperierenden Norden gegenüber. Eine Analyse der Produktivitätsentwicklung zeigt: Der Süden ist weit abgehängt, aber als Problem kommt im Norden eine Industrie hinzu, die ausgerechnet in ihren alten Hochburgen schwächelt.

Eine im Dezember 2017 vom “Centre for Economic Performance” der London School of Economics veröffentlichte Untersuchung zur Produktivitätsentwicklung in Italien in den Jahren 1993 bis 2013 hat das Verdienst, ein Schlaglicht auf regionale wie branchenspezifische Entwicklungen in der italienischen Wirtschaft zu werfen. Sie zeigt, dass in einer Zeit, in der die Produktivitätsentwicklung in der industriellen Welt generell – auch in den Vereinigten Staaten und in Deutschland – schwach verläuft, Italien den Durchschnitt der Industrienationen noch weit unterschreitet.

Eine schwache Produktivitätsentwicklung ist häufig das Ergebnis von Fehlallokationen von Kapital und/oder Arbeit. Kapital und/oder Arbeit werden nicht optimal, sondern für wenig effiziente Zwecke eingesetzt. Wenn Ökonomen von Fehlallokationen hören, denken manche sofort an Fehllenkungen durch die Notenbanken, indem eine zu expansive Geldpolitik dafür sorgt, dass Ressourcen in wenig effiziente Verwendungen, zum Beispiel die Bauwirtschaft, gelenkt werden, bis dort ein Boom in eine Krise abkippt. Die italienische Geschichte ist eine andere: Hier finden Fehlverwendungen von Kapital nicht zwischen, sondern innerhalb von Branchen statt, indem zu viele Ressourcen in schwache anstatt in starke Unternehmen fließen.  Dies finden vor allem in Branchen statt, die im internationalen technologischen Wettbewerb stehen. Junge und innovative Unternehmen sind benachteiligt. Dies bekräftigt einen Befund aus einer anderen Arbeit, auf die wir in einem früheren FAZIT-Beitrag verwiesen hatten: Die italienische Wirtschaft bleibt im Umgang mit neuen Technologien, die aus der digitalen Revolution kommen, zurück.

Die betroffenen Branchen finden sich vor allem im Nordwesten des Landes, dem alteingesessenen industriellen Leistungszentrum, sowie in Zentralitalien. Hier ruht die neue Schwäche Italiens – der Süden ist in einer Analyse der Produktivitätsentwicklung heute ebenso abgehängt wie früher. Wie extrem die Produktivitätsschwäche wirkt, zeigt eine Simulation der Autoren des Papiers. Wären die Fehlallokationen auf dem Stand des Jahres 1995 geblieben, hätte das italienische Wirtschaftswachstums pro Jahr seitdem rund ein Prozent mehr betragen.

Welche Gründe lassen sich für diese Entwicklung finden? Die Autoren gelangen auf der Basis ihrer Berechnungen zu diesen Ergebnissen:

  • Besonders ineffizient sind große Unternehmen, die von ihrer Größe her an sich eher in der Lage sein sollten, im globalen Wettbewerb mitzuhalten. Sie beschäftigen allerdings häufig zu viele und zu wenig kompetente Mitarbeiter. Dagegen befinden sich viele kompetente Arbeitskräfte in effizienten kleinen Unternehmen, die aber häufig zu klein für den internationalen Wettbewerb sind.
  • Viele der nicht genügend effizienten Unternehmen befinden sich im Besitz von Familien. Das ist kein neues Resultat: Gerade für Italien liegen auch andere Untersuchungen vor, die zeigen, dass viele Familien in der Führung von Unternehmen sehr vorsichtig sind und gerne in wenig riskant erscheinende Geschäfte investieren. Dieses Problem ist so  ausgeprägt, dass in der Analyse Familienunternehmen nicht produktiver sind als Staatsunternehmen. Dagegen erweisen sich Unternehmen, die unter Kontrolle von Finanzhäusern, anderen Unternehmen oder ausländischen Eigentümern stehen, als sehr viel produktiver.
  • Eine weitere Rolle spielt die Kreditvergabe der Banken. Es wird zu viel Kredit an wenig effiziente Unternehmen und zu wenig Kredit an effiziente Unternehmen gegeben. Das hat mehrere Gründe. Ein auch in früheren FAZIT-Beiträgen erwähnter Grund ist die Tatsache, dass viele innovative Unternehmen nur noch wenig materielle Sachinvestitionen vornehmen, die von Banken als Kreditsicherheit akzeptiert werden könnten. Dies ist wahrscheinlich eines der größten Probleme Italiens: Innovative Unternehmen kommen zu schwer an finanzielle Mittel. 1)
  • In diesem Zusammenhang fällt auf, dass wenig effiziente Unternehmen relativ viel Eigenkapital aufnehmen, während es günstiger wäre, wenn die effizienten Unternehmen mehr Eigenkapital besäßen.
  • Der Effekt des Euros ist nicht ganz eindeutig. Nachweisen lässt sich, dass von den sinkenden Zinsen im Zuge der Euro-Einführung überdurchschnittlich wenig effiziente Unternehmen durch Kreditvergaben profitierten. Außerdem lässt sich zeigen, dass in hochverschuldeten Unternehmen eine Tendenz besteht, Kapital und Arbeit nicht optimal im Produktionseinsatz zu kombinieren. Dieser vor der Euro-Einführung beobachtbare Effekt (die Zinsen sind schon vor 1998 gesunken) hat sich nach der Einführung der Gemeinschaftswährung aber nicht mehr verstärkt.
  • Eindeutig dagegen ist der empirische Befund, dass die in Italien seit Jahrzehnten befindlichen engen Beziehungen zwischen Unternehmen und Banken (“Hausbankprinzip”) nachteilig für die Produktivitätsentwicklung sind.2) Schwache Unternehmen mit engen Kontakten zu Banken erhalten eher Kredit als starke Unternehmen, die nicht eng mit einer Bank verbandelt sind.
  • Die Arbeitsmarktregeln sorgen für einen geringen Abbau unbefristeter Stellen in schwachen Unternehmen. Im Gegenzug zeigt sich, dass gerade in effizienten, aber für den globalen Wettbewerb zu kleinen Unternehmen, der Anteil der temporär beschäftigten Mitarbeiter zu hoch ist.

Was folgt daraus?

Die nachhaltige Schwäche der italienischen Produktivität hat wenig mit dem Euro oder dem konkreten Einsatz von Geld- oder Fiskalpolitik zu tun. Infolgedessen verschwänden diese Probleme auch nicht, wenn die EZB ihre Geldpolitik änderte, eine populistische Regierung in Italien eine expansive Finanzpolitik betriebe oder das Land aus der Währungsunion austräte. (Dass der Euro nicht das Hauptproblem Italiens ist, hat dieser Tage auch der bekannte Ökonom Daniel Gros betont.)

Es hilft auch keine großangelegte Strukturpolitik, die Ressourcen zwischen Branchen oder Regionen umverteilen wollte. Das Problem Italiens lässt sich nicht mit einer Strategie “Weg vom Textil, hin zu Technologie” lösen, weil die wichtigsten Probleme innerhalb der Branchen lauern. Mit anderen Worten: Man müsste Wege finden, dass innerhalb der Technologiebranche wie innerhalb der Textilbranche (und weiteren Branchen wie dem Maschinenbau etc.) die effizienten Unternehmen gegenüber den ineffizienten besser dastehen.

Vorschläge, wie man solche Probleme anpacken kann, gibt es seit langem. Dazu zählen flexiblere Arbeitsmarktregeln ebenso wie ein effizienterer Umgang mit dem Abwickeln kaputter Unternehmen – häufig findet man auf Jahre keinen Richter, der sich um die rechtlichen Aspekte kümmert. Und was die Eigentümerstrukturen angeht: Verkäufe von Unternehmen an Private-Equity-Investoren oder Börsengänge könnten in vielen Fällen Wunder wirken.3)

Die positive Nachricht lautet: Natürlich gibt es Möglichkeiten, die italienische Wirtschaft voranzubringen, ohne politisch oder wirtschaftlich alles umzuwälzen. Die negative Nachricht lautet: Selbst wenn die Politik diese Prioritäten setzen würde – was sie derzeit definitiv nicht tut -, würde es lange dauern. Auch in Deutschland hatte es Jahre gedauert, bis die Reformpolitik wirkte und Deutschland Italien im Wirtschaftswachstum abhängte.

 


  1. Zum Verhältnis von Finanzierung und Produktivität in Italien ist auch diese recht aktuelle Studie interessant, die Ende letzten Jahres auf einer Konferenz von BIZ, OECD und Internationalem Währungsfonds in Paris vorgestellt wurde.
  2. So gilt traditionell die Mailänder Mediobanca als eine Art Spinne im Netz der norditalienischen Industrie.
  3. Der Ökonom Dani Rodrik, der die oben vorgestellte Arbeit aus der London School of Economics gestern auf Twitter erwähnte, rät dort: “Need to both help successful firms grow and facilitate dissemination of new techniques to lagging firms. A combination of market and government failures are likely culprit. Fixing them requires not generic ‘structural reforms’ but public-private collaboration and diagnostics.”