Eine Gruppe von Freunden hat sich eine Wanderausrüstung ausgeliehen, Unterkunft und Tourguide gebucht und ist für ein Outdoor-Wochenende in die Schweizer Alpen gefahren. Voller Vorfreude machen sie sich auf die Reise, nehmen einen mehrstündigen Stau in Kauf. Doch als sie am Ziel ankommen, stellt sich alles als wenig erfreulich heraus.
Die Hütte, in der sie übernachten wollten, ist heruntergekommen. Es ist kalt und ungemütlich, und zu allem Überfluss liegt auf den Routen, die sie sich ausgeguckt hatten, Schnee. Zudem regnet es schon seit Tagen heftig und soll auch das ganze Wochenende so weitergehen. Es hätte so schön sein können. Und jetzt wünscht sich insgeheim jeder zurück nach Hause.
Und trotzdem: Als einer aus der Gruppe vorschlägt, den Kurzurlaub zu unterbrechen und wieder heimwärts zu fahren, reagieren die anderen mit Unverständnis. Sie hätten doch schon so viel Zeit und Geld investiert! Die Leihgebühr für die Ausrüstung, die Kosten für Anfahrt, Unterkunft und Guide – das alles wäre verloren. Wie sollen sich die Freunde entscheiden? Sollen sie bleiben? Oder doch lieber das Geld in den Wind schießen, nach Hause fahren und in Kauf nehmen, dass manch ein Daheimgebliebener sie für verschwenderisch hält?
Die meisten Menschen würden ihren Urlaub niemals vorzeitig abbrechen, da kann die Unterkunft oder das Wetter noch so schlecht sein. Ihr Unbehagen über den Verlust wäre einfach zu groß. Die abgeklärten Ökonomen halten dieses Verhalten für höchst irrational. Für sie ist die Sache klar: Egal, wie man sich entscheidet, das bereits investierte Geld ist weg. “Versunkene Kosten” nennen sie das Problem oder “sunk cost”. Sie raten, in der Entscheidungsfindung nur die Kosten und den Nutzen zu berücksichtigen, die in der Zukunft zu erwarten sind.
Und doch weiß jeder von Glücksspielern, die ihre letzten Ersparnisse verpulvern, nur weil der größte Teil ihres Geldes schon den Bach hinuntergegangen ist. Oder von Opern-Besuchern, die sich vermeintlich tapfer durch eine ermüdende Inszenierung quälen, obwohl sie locker in der Pause fliehen und den Abend besser nutzen könnten. Aber wer einen dreistelligen Betrag in ein Ticket investiert hat, kann doch nicht einfach aufstehen und gehen. Zumal ja immer die Hoffnung besteht, dass die Aufführung nach der Pause doch noch besser wird. Und dann hätte man sich grün und blau geärgert, nicht am Ball geblieben zu sein.
Sicher, den richtigen Moment für den Absprung zu finden, ist unheimlich schwer. Wie aber lässt sich erklären, dass wir in der Regel auch dann weitermachen, wenn wir eigentlich längst wissen sollten, dass es besser wäre, zu gehen? Eine interessante Antwort auf diese Frage liefert eine neue Studie aus den Vereinigten Staaten,
die gerade in der Fachzeitschrift “Science” erschienen ist.
Neurowissenschaftler der Universität Minnesota haben darin nachgewiesen, dass es nicht nur uns Menschen, sondern auch anderen Lebewesen extrem schwerfällt, einer Entscheidung den Rücken zu kehren, sobald sie Zeit und Energie investiert haben. Auch dann, wenn es offensichtlich bessere Alternativen gibt. Für sie ist die Sache klar: Unsere Hartnäckigkeit ist evolutionär bedingt.
Um dies herauszufinden, wurden 65 Studenten, 32 Ratten und ebenso viele Mäuse im Labor vor eine auf ihre Art abgestimmte Geduldsprobe gestellt: Die Nager mussten auf ihr Fressen warten, die menschlichen Probanden darauf, dass ein Video im Internet lädt. Ob Ratte oder Mensch, die getesteten Subjekte verhielten sich alle gleich: Je länger sie schon gewartet hatten, desto wahrscheinlicher war es, dass sie weiter warteten.
Das blieb auch so, als die Wissenschaftler ihnen effizientere Möglichkeiten eröffneten, um an ihr Ziel zu kommen. So wurden die Tiere zunächst durch ein erstes akustisches Signal darauf hingewiesen, dass es an einer von vier Ausgabestellen bald Essen geben werde. Nachdem sie sich entschieden hatten, zeigte ihnen ein weiteres Signal, ob sie noch lange an ausgewählter Stelle ausharren mussten. Obwohl sich die Nager auch hätten umentscheiden können, um früher an ihr Ziel zu kommen, blieben sie oft dort, wo sie sich ursprünglich positioniert hatten.
Die meisten Studenten verhielten sich ähnlich wie die Tiere. Je mehr Zeit sie schon in ein Video investiert hatten, desto seltener brachen sie ab – selbst dann, wenn ihnen die Option gegeben wurde, es über einen vielversprechenderen Kanal zu versuchen. Und nicht nur das: Je länger es dauerte, bis die Probanden ans Ziel kamen, desto wertvoller wurde die “Belohnung” für sie. Darum gebeten, die Videos nach dem Schauen auf einer Skala von eins bis fünf zu bewerten, gaben die Testpersonen in der Regel jenen Filmchen die meisten Punkte, auf die sie am hartnäckigsten gewartet hatten.
Was heißt das jetzt für uns? Dass wir nicht klüger sind als Ratten und Mäuse? Oder dass wir einfach nicht aus unserer Haut können, wenn doch alles biologische Ursachen hat? Das Urteil der Forscher fällt milder aus: Sie führen unser Verhalten auf die einfache Tatsache zurück, dass die Zukunft nun mal nicht vorhersehbar ist. Und weil wir nicht die Mittel haben, die Konsequenzen unseres Handelns ganzheitlich zu erfassen, sind wir schlicht dazu gezwungen, auf unsere eigenen Zukunftsprognosen zu wetten.
Dass wir uns in der Folge systematisch an bereits investierter Zeit und Energie (und Geld) orientieren, könnte nach Auffassung der Autoren eine Art Selbstschutz sein. Sie erkennen darin den Versuch, uns selbst über unsere Entscheidungen Zuversicht zu spendieren. Damit wir nicht ständig vor uns selbst unser Gesicht verlieren. Warum wir ausgerechnet die Belohnungen, die wir uns nach einem besonders irrationalen Verhalten erkämpfen, als besonders wertvoll empfinden, liegt für sie ebenfalls auf der Hand: Dies sei ein Weg, kostspielige Entscheidungen im Nachhinein zu rationalisieren, getreu dem Motto: Hätte es sich nicht gelohnt, hätte ich niemals so viel investiert.
Heißt das also, dass wir uns nun einfach unserem Schicksal ergeben sollten? Mitnichten. Zumindest wenn man einer anderen Studie amerikanischer Forscher aus dem Jahr 2007 glaubt. Natürlich ist die Einsicht, dass man einen falschen Weg eingeschlagen oder eine falsche Entscheidung getroffen hat, nicht gerade schön. Unterm Strich aber profitieren wir körperlich und psychisch davon, uns von unrealistischen Zielen zu verabschieden: Wir werden glücklicher, körperlich gesünder – und fühlen uns weniger gestresst.