Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Diese Arbeit braucht kein Mensch

Berater, Redenschreiber oder Coaches: Auf viele Jobs könnten wir dankend verzichten. Von Jürgen Kaube

Der amerikanische Anthropologe David Graeber hat vor kurzem die These veröffentlicht, dass mehr als ein Drittel aller Jobs in Industriegesellschaften überflüssig sind. Damit meint er nicht manuelle Tätigkeiten, die von Robotern übernommen werden können. Es geht ihm um Bürojobs, Arbeit im Dienstleistungssektor, in der Beratungs- und Finanzbranche, in Verwaltungen oder im Personalwesen.
Wie Graeber darauf kommt, dass solche Jobs, wie er es nennt, “Bullshit-Jobs” sind, von denen niemand merken würde, wenn sie wegfielen? Zum einen hält er sich an Selbstauskünfte von Besitzern solcher Jobs. Dauernd begegne er Leuten, die ungern darüber sprechen, was sie den ganzen Tag tun, um nach ein paar Drinks zuzugeben, dass sie eigentlich fast gar nichts Sinnhaftes tun. Sie sitzen in Meetings herum, verfassen Präsentationen, die niemand braucht, schreiben Evaluationsberichte, die alle sofort wieder vergessen. Oder sie sind den halben Bürotag bei Twitter, Facebook oder Youtube.
Graeber weist darauf hin, wie viele Jobs man sich aus Wirtschaft und Verwaltung wegdenken kann, wohl ohne dass es jemand merken würde. Wenn die Ärztinnen und Krankenschwestern, die Köche und Klempner, die Lehrerinnen und die Müllabfuhr verschwänden, wäre das spürbar. Aber die Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit der Universitäten? Die Lobbyisten? Redenschreiber? Berater? Graeber jedenfalls kann sich eine Welt gut vorstellen, in der es sie nicht gibt. Auf die alte Frage “Was tun Bosse eigentlich?”, antwortet er: weniger, als man denkt.
Ökonomisch betrachtet, stellt diese These vor ein Rätsel. Soeben noch sollte der Kapitalismus ein System der Ausbeutung sein, presste Leistungen heraus, ohne dafür adäquat zu bezahlen, und stellte überdies nie genug Leute ein. Jetzt soll es genau umgekehrt sein. Die Firmen unterhalten, und zwar je größer sie sind desto mehr, Abteilungen, die entbehrlich wären, bezahlen ein riesiges mittleres Management fürs Zeittotschlagen. Sie rationalisieren aber ausgerechnet die nützlichen und vergleichsweise schlecht bezahlten weg. Wieso aber sollte ausgerechnet unprofitable Arbeit vom Kostendruck in Unternehmen ausgenommen sein? Weshalb sollte eine Firma mit einem Wasserkopf an Verwaltung nicht im Wettbewerb einer anderen unterliegen, die auf Jobs mit nur rituellen Funktionen verzichtet?
Graeber gibt unterschiedlich plausible Antworten auf diese Frage. Die Gesetzgebung zwingt Firmen dazu, Regulierungserwartungen zu entsprechen. Ohne staatliche Anweisungen keine Compliance-Abteilungen. In großen Firmen hängt der Status von Managern daran, wie vielen anderen Managern sie befehlen. Das Wachstum der Firmen legt nahe, immer mehr Leute einzustellen, die nur fürs Koordinieren und Kommunizieren zuständig sind. Kostendruck, der dem Einhalt gebieten könnte, existiert gar nicht, wenn man nur Gewinne – sofern es welche gibt – zweckentfremdet und in der Organisation verbraucht, anstatt sie an die Arbeitnehmer oder Eigentümer auszuschütten.
So weit die These. Wie steht es nun um ihre empirische Grundlage? Nimmt denn die Zahl der Leute ständig zu, die Sinnkrisen in mittleren Angestelltenwelten durchleben, weil sie nichts zu tun haben? Man wird Graeber nicht schon folgen wollen, nur weil ihn, nachdem er sein Argument in einem Aufsatz publiziert hat, hundert E-Mails und Tweets von Managern und Vorstandsassistenten erreicht haben, die darunter leiden, nichts Sinnvolles zu tun.
Die Chicagoer Arbeitsökonomen Greg Kaplan und Sam Schulhofer-Wohl haben unabhängig von Graeber gerade eine Studie vorgelegt, die sich mit der Veränderung des Berufslebens seit dem Zweiten Weltkrieg befasst. Nur auf die Entwicklung der Löhne und der Arbeitszeit zu schauen, halten auch sie für zu schlicht. Denn Arbeit sei nicht nur der Tausch von Freizeit gegen Bezahlung. Die Erwartung, sich mit einem Beruf identifizieren zu können, sei gestiegen. Der Anteil der nichtkörperlichen Arbeit wiederum ist zurückgegangen. Dass in erster Linie Manager unter Stress leiden und besonderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, kann nach den berühmten Whitehall-Studien des englischen Epidemiologen Michael Marmot auch nicht mehr so leicht behauptet werden: Der Stress ist unten viel höher als oben.
Die Chicagoer Forscher haben sich einer interessanten Methode bedient, um herauszufinden, wie sich die Einstellungen zu Jobs im Zeitablauf gewandelt haben. Zu solchen Einstellungen gibt es nämlich nur relativ junge Daten. Darum haben sie die heutigen Einschätzungen, wie ermüdend, beglückend, stressig oder langweilig ein bestimmter Job sei, auf ältere Berufsverteilungen bezogen. Unter der Annahme, dass körperliche Anstrengung beispielsweise heute als genauso belastend empfunden wird wie früher, kommen sie so zu Befunden, wie sich die Gesamtbelastung der Beschäftigten durch körperliche Arbeit verändert hat.
Danach haben die Ermüdung und der Schmerz ab-, der Stress und die Sinnhaftigkeit zugenommen – genauer: die Anteile der Berufe, die so erlebt werden. Dieses Bild ändert sich, wenn man nach Geschlechtern unterscheidet. Denn für Männer hat sich der Anteil der Berufe erhöht, die als zermürbend und sinnentleert empfunden werden, während bei den Frauen der Anteil der positiv erlebten Tätigkeit zunahm. Doch auch hier gibt es eine Einschränkung, wenn man den Bildungsgrad hinzuzieht. Verbessert hat sich die Situation nämlich vor allem für Frauen, die nicht studiert haben, während es bei den Männern diejenigen mit geringen Abschlüssen sind, bei denen die als lästig erlebten Jobs zugenommen haben.
Die Verbesserungen des Berufserlebens bei den Frauen könnten, so die Ökonomen, darauf zurückgehen, dass sie weniger oft in Fabrikhallen angetroffen werden, während bei den Männern die Unzufriedenheit gerade darauf beruht, dass sie immer mehr im Dienstleistungssektor tätig sind. Das mag nicht nur am unterschiedlichen Erleben in denselben Jobs liegen. Es mag auch schlicht damit zusammenhängen, dass in denselben Jobs von Männern und Frauen anderes erwartet wird. Die Autoren sind sich überdies bewusst, dass sich auch das soziale Ansehen von Berufen ändert, was für die Sinnhaftigkeit von Bedeutung ist, die ihnen zugeschrieben wird. Wie es ein Bankmanager aus Friesland während der Finanzkrise 2008 einmal formuliert hat: Früher wurden wir auf der Straße noch gegrüßt. Auch das spielt vermutlich in das Ausmaß hinein, in dem ein Job als überflüssig empfunden wird. Kurz: Um Graebers witzige These zu überprüfen, wartet auf die Forschung viel Arbeit, die er ihr überlassen hat. Großzügigerweise, denn diese Forschung wäre gewiss kein Bullshit-Job.
Literatur:
David Graeber: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Klett-Cotta, Stuttgart 2018.
Greg Kaplan und Sam Schulhofer-Wohl: “The Changing (Dis-)Utility of Work”, Journal of Economic Perspectives 32 (2018)