Nach dem ersten Weltkrieg entstand ein Steuersystem, das sich bis heute nicht grundsätzlich verändert hat. DIW-Forscher Stefan Bach zeichnet die Entwicklung nach.
„Der Krieg ist der Verwüster der Finanzen“ – so eröffnete Reichsfinanzminister Matthias Erzberger seine erste Rede vor der Weimarer Nationalversammlung Anfang Juli 1919, in der er eine umfassende Finanzreform ankündigte. Diese wurde in einem beispiellosen Kraftakt bis Frühjahr 1920 durchgezogen. Trotz (oder wegen) des extremen Zeitdrucks und der chaotischen politischen Lage gelang eine nahezu vollständige Umgestaltung, Modernisierung und Zentralisierung des Steuer- und Finanzsystems. Wesentliche Elemente dieser „Erzbergerschen Reformen“ haben bis heute Bestand: von der Abgabenordung und der Finanzgerichtsbarkeit über die Grundstrukturen des Steuersystems und der Finanzverwaltung bis zum zentralistischen kooperativen Finanzföderalismus.
Unser Steuersystem wird also nächstes Jahr 100 Jahre alt.
Diese Reformen markieren den Durchbruch des modernen Steuerstaats in Deutschland. Die finanzpolitische Bewältigung des Ersten Weltkriegs bedeutete ähnlich wie in anderen Ländern eine Niveauverschiebung („displacement effect“) in der wirtschaftlichen Bedeutung des Staatsektors und bei der Akzeptanz von Steuerbelastungen. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote – das Steueraufkommen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – stieg von 8 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg auf 15 Prozent ab Mitte der 1920er Jahre. Es entstand das heutige Steuersystem mit Umsatzsteuer und Verbrauchsteuern einerseits sowie den Einkommensteuern einschließlich Unternehmensteuern andererseits. Hinzu kamen die grundstücks- und vermögensbezogenen Steuern, die durch Vermögensteuer und Vermögensabgaben bis in die 1970er Jahre ein deutlich größeres Gewicht hatten als heute.
Depression und Deflationspolitik im Zuge der Weltwirtschaftskrise erhöhten die Steuer- und Abgabenlasten. Das NS-Regime konsolidierte die hektischen Reformen, machte die Finanzverwaltung effektiver, erhöhte die Belastungen weiter – und stellte die öffentlichen Finanzen sukzessive in den Dienst von Gewaltherrschaft, Eroberungspolitik, totaler Kriegswirtschaft und Völkermord. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die öffentlichen Finanzen erneut komplett zerrüttet.
95 Prozent Spitzensteuersatz
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder starteten mit Einkommensteuer-Spitzensätzen von bis zu 95 Prozent, einem Körperschaftsteuersatz von 60 Prozent und hohen Vermögensteuern. Erst schrittweise gelang die Senkung der hohen Steuersätze. Steuervergünstigungen unterstützten die Struktur- und Regionalpolitik seit den 50er Jahren, der Sozialstaat wurde ausgebaut, seit den 60er Jahren wurden gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsziele verfolgt.
Nach dem Ende der „Trente Glorieuses“ der Nachkriegsprosperität dominierten ab Mitte der 1970er Jahren Strukturprobleme und Konsolidierung die Steuer- und Finanzpolitik, seit den 1980er Jahren angebotsökonomische und (neo)liberale Reformagenden. Die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen wurden gesenkt, die indirekten Steuern ausgebaut, die Progression des gesamten Steuersystems ging zurück. Seit der Finanzkrise 2009 stehen Verteilungsfragen wieder stärker im Vordergrund. Dank des langen Aufschwungs und dynamischer Einkommen- und Unternehmensteuern zog die Steuerquote zuletzt wieder kräftig an. Vor allem Mittelschichten und Besserverdiener ächzen unter hohen Steuer- und Abgabenlasten.
Die Grundstrukturen sind erstaunlich stabil
Insgesamt sind die Grundstrukturen des Steuersystems über die letzten 100 Jahre erstaunlich stabil geblieben, größere Umbrüche hat es nicht mehr gegeben – Evolution statt Revolution. Seit den 50er Jahren bewegte sich die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung in Deutschland auf derzeitigem Niveau, sie schwankte zumeist in einer Bandbreite von 22 bis 24 Prozent. Die Sozialbeiträge stiegen noch deutlich an, seit den 80er Jahren liegen die gesamten Steuern und Abgaben um die 40 Prozent des BIP.
Diskussionen um Höhe und Struktur der Steuer- und Abgabenbelastung sind seit Erzbergers Zeiten eine prominente Konstante der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Alle 15 bis 25 Jahre gab es größere Debatten um eine „grundlegende Steuerreform“. Diese verliefen allerdings regelmäßig im Sand, wenn die Reformkonzepte konkreter wurden und Kompromisse geschmiedet werden mussten – wie zuletzt Mitte der Nullerjahre mit dem „Bierdeckel“-Vorschlag von Friedrich Merz und dem Reformkonzept von Paul Kirchhof.
Die deutsche Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik war aber durchaus in der Lage, notwendige Reformen durchzusetzen, wenn es darauf ankam – etwa der Übergang zur Mehrwertsteuer Ende der 60er Jahre, die Einkommen- und Körperschaftsteuerreformen der 70er Jahre, die schrittweisen Einkommensteuerreformen von 1996 bis 2005, die Unternehmensteuerreformen 2001 und 2008 oder die Ausweitung der Energiesteuern bis 2003. Das Bundesverfassungsgericht war seit den 1990er Jahren eine treibende Kraft, den Gesetzgeber zur Reform von groben Missverhältnissen im Steuerrecht zu zwingen, etwa bei Einkommensteuer-Grundfreibetrag, Kapitalertragsbesteuerung, Grundbesitz-Einheitsbewertung, Erbschaftsteuer oder zuletzt bei der Grundsteuer. Einfacher und transparenter ist das Steuerrecht dadurch aber nicht geworden, geschweige denn „systematischer“.
Steuerstaat und marktwirtschaftlich-kapitalistisches Wirtschaftssystem werden häufig als Gegensatz wahrgenommen. Tatsächlich sind sie wie ungleiche Geschwister eng miteinander verbunden und auf einander angewiesen. Denn der Finanzierungsbedarf an öffentlichen Gütern ist hoch. Die künftigen Herausforderungen von Wissensgesellschaft, Digitalisierung, demografischem Wandel, Zuwanderung und Klimaschutz erhöhen ihn weiter. Zugleich sind Reformen und Einsparungen auf der Ausgabenseite des Budgets nur schwer zu erreichen. Selbst Konservative und (Neo)liberale bemühen sich kaum noch ernsthaft darum, der aufstrebende politische Populismus tut sein Übriges dazu. Daher werden die Steuer- und Abgabenbelastungen langfristig nicht sinken – man muss schon froh sein, wenn sie nicht steigen.
Stefan Bach: 100 Jahre deutsches Steuersystem: Revolution und Evolution. DIW Berlin Discussion Papers 1767, 2018.
Stefan Bach ist Steuerexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW Berlin. Im Westend Verlag erschien sein Buch „Unsere Steuern. Wer zahlt? Wie viel? Wofür?“ (2016)