Wer mehr verdient, hat eine höhere Lebenserwartung. Das liegt nicht am Einkommen. Von Jürgen Kaube
Die Lebenserwartung ist weltweit sehr ungleich. Im Durchschnitt liegt sie bei gut 71 Jahren. Während aber Japanerinnen derzeit mit 88,5 Jahren rechnen können und deutsche Frauen mit 83, erreicht die durchschnittliche Bürgerin Somalias nicht einmal ihr 55. Jahr, und litauische Männer werden im Durchschnitt keine 70. Zwischen den ungesündesten Ländern, so der britische Sozialmediziner Michael Marmot, und den gesündesten liegt etwa derselbe Abstand wie zwischen dem London von Oliver Twist, also 1837, und dem heutigen. Zugleich wächst in vielen Ländern der Abstand zwischen Trägern von Merkmalen, die alt werden, und solchen, die früh sterben. In Glasgow beispielsweise liegt in einem Stadtviertel die männliche Lebenserwartung bei Ende fünfzig, was weniger ist als in Indien, in einem anderen bei 82 Jahren. Wir leben, so Marmot, was Gesundheit angeht, in den besten und zugleich schlimmsten Zeiten.
Worauf gehen solche Unterschiede zurück? Das Beispiel Glasgow schließt ethnische oder kriminalstatistische Erklärungen aus, wie sie vielleicht in Baltimore oder Chicago nahelägen. Auch ein schlichter Zusammenhang von Armut und Krankheit greift nicht. Denn selbst die Mittelschicht stirbt weltweit auch dann früher als die Oberschicht, wenn es ihr an medizinischer Versorgung nicht fehlt. Auf welcher Stufe der sozialen Leiter man auch steht, schreibt Marmot, der zu den führenden Forschern auf diesem Gebiet gehört, die nächste Stufe ist stets mit einer höheren Lebenserwartung verbunden. Es gehe also, was die Gesundheit angehe, nicht einfach um ihre Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren. Es gehe nicht um Armut, sondern um eine Ungleichheit, die nur lose mit ihr zusammenhängt. Gesundheitspolitisch formuliert, sei die Aufgabe nicht, die Lebenserwartung der Ärmsten zu erhöhen, sondern die Lebenserwartung aller derjenigen der Bestgestellten anzugleichen.
Noch einmal also: Weshalb hat ein Mann in Calton (Glasgow) eine geringere Lebenserwartung als der durchschnittliche Inder? Es mangelt ihm nicht an sauberem Wasser, Malaria spielt in Schottland keine Rolle, und man stirbt dort auch nicht an Ruhr. Die Antwort lautet: In den indischen Durchschnitt gehen all diejenigen mit ein, die dort einen hohen sozialen Status besitzen. In Calton hingegen hat niemand einen hohen sozialen Status, und es übt niemand ein hohes Maß an Selbstkontrolle über das eigene Leben aus.
Anders formuliert: In armen Ländern ist der Gesundheitszustand der Leute schlecht, weil vielen von ihnen Medikamente und der Zugang zu Behandlungen fehlen. In reichen Ländern hingegen sterben diejenigen, die früh sterben, zumeist nicht an Unterversorgung. Oberhalb eines nationalen Durchschnittseinkommens von 10.000 Euro gibt es kaum einen Zusammenhang zwischen dem Verdienst einer Person und ihrer Lebenserwartung.Zu den ersten Studien, die Marmot vor fünfzig Jahren hierzu durchgeführt hat, gehörten solche in Kalifornien. Damals standen die Gesundheitsforscher vor dem Befund, dass bei Japanern, wenn sie ostwärts migrieren, die Rate der Herzkrankheiten zunimmt. Japaner in Hawaii erkranken öfter am Herzen als solche in Japan und solche in Kalifornien öfter als die in Hawaii, aber immer noch seltener als “weiße” Amerikaner.
Die gängige Erklärung dafür war: Ernährung. Je amerikanischer man isst, desto cholesterinreicher. Dann aber ließ sich zeigen, dass auch kulturelle Eigenheiten eine Rolle spielen. Je stärker die Migranten in japanische Netzwerke integriert blieben, desto älter wurden sie. Warum? Weil sie diese Integration einem geringeren Stress und insgesamt geringeren Lebensanstrengungen aussetzte.Damit ist der für Marmot entscheidende Faktor benannt, der weltweit die Lebenserwartung derjenigen bestimmt, denen eine medizinische Grundversorgung offensteht. Es ist das Ausmaß an Entscheidungsfähigkeit, das sie in Bezug auf ihre Lebensumstände besitzen.
Anders als es einst der Begriff “Managerkrankheit” nahelegte, nimmt beispielsweise die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem Status in Organisationen zu. Fondsmanager mögen sich gehetzt vorkommen, aber sie kontrollieren etwas. Zwar wird unten mehr geraucht als oben, aber Übergewicht, Bluthochdruck und Rauchen erklären überhaupt nur ein Drittel der Differenz in den Lebenserwartungen zwischen den Schichten. Wichtiger ist der Stress, und der ist unten größer als oben. Warum? Weil oben zwar mitunter die Anforderungen größer und die Arbeitszeiten länger sind, aber dafür mehr Handlungsmacht über das eigene Leben besteht.
Armut macht krank, aber wichtiger noch als Einkommen sind dabei die Arbeitssituation und das Gefühl, das eigene Leben zu führen. Nicht einmal zehn Prozent aller britischen Erwachsenen in akademischen Berufen rauchen, während es unter den körperlich Arbeitenden beinahe ein Drittel ist. Beim Alkoholkonsum verhält es sich umgekehrt, aber die alkoholbedingten Krankheiten verteilen sich ebenfalls nach dem sozialen Status und nehmen von unten nach oben ab. Nicht der Durchschnittskonsum spielt die entscheidende Rolle, sondern seine Verteilung: Die Armen trinken im Durchschnitt weniger, aber sie finden sich häufiger unter denen, die exzessiv und lebensbedrohlich trinken. Armut wirkt, anders formuliert, nicht nur aufgrund mangelnder Konsumchancen auf den Lebensstil, sondern vielmehr aufgrund engerer Entscheidungshorizonte, reduzierter Selbstbeherrschung und mangelnder sozialer Unterstützung. Sie macht das Leben instabiler.
Marmot legt Wert darauf, dass diese Schlussfolgerung nicht umgekehrt gezogen werden kann: Die Leute sind nicht, wie viele Ökonomen reflexhaft denken, arm, weil sie ungesund leben. Sondern sie leben ungesund, weil sie keine Kontrolle über ihr Leben verspüren und es als Falle empfinden. Sie sind nicht arbeitslos, weil sie sich vernachlässigen, sondern sie vernachlässigen sich oft, weil sie arbeitslos sind. Gesundheitspolitik habe das zu berücksichtigen: dass nicht der Einkommenszuwachs als solcher die Leute weniger krankheitsanfällig macht, sondern die Erleichterung des Lebens. Wohlstand heißt, so gesehen, nicht “hohe Konsumchancen”, sondern “nicht alles selbst tun müssen” und “ein weniger gehetztes Leben führen”. Öffentlicher Nahverkehr, Kindertagesstätten, Arbeitsschutzgesetze, kommunale Aufmerksamkeit auf Risikogruppen – all das sind für Marmot darum Investitionen in die Lebenserwartung einer Bevölkerung, weil sie die soziale Drangsal reduzieren, die sich in der Krankenstatistik niederschlägt.
Michael Marmot: The Health Gap. The Challenge of an Unequal World, London 2015.