Ökonomen schauen zu viel auf wirtschaftliche Interessen und zu wenig auf Ideen. Denn Menschen maximieren nicht nur ihren materiellen Nutzen.
Wer Politische Ökonomie studiert, wird viel über die Versuche von Interessengruppen und Eliten lernen, auf Kosten der Allgemeinheit ökonomische Partikularinteressen durchzusetzen. So betrieben die amerikanischen Banken in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Lobbyarbeit in Washington, um aus der Weltwirtschaftskrise stammende Regulierungen abzustreifen. Die Agrarwirtschaft kämpft traditionell mit dem Argument nationaler Autarkie und des Landschaftsschutzes für Begrenzungen des globalen Wettbewerbs. Es gäbe noch viele andere Beispiele, wie Gruppen versuchen, sich durch Partikularinteressen wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. All das ist richtig und wichtig und Ökonomen tun gut daran, darauf zu schauen.
Aber es ist nicht alles. Vor dem Zweiten Weltkrieg bemerkte John Maynard Keynes in seiner “General Theory”: “… die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen, ob richtig oder falsch, sind mächtiger als allgemein angenommen. Tatsächlich wird die Welt von kaum etwas Anderem regiert. Praktische Männer, die sich von intellektuellen Einflüssen verschont halten, sind üblicherweise die Sklaven eines toten Ökonomen. An der Macht befindliche Verrückte, die Stimmen in der Luft hören, leiten ihren Irrsinn von einem wenige Jahre alten akademischen Geschreibsel ab. Ich bin sicher, dass die Macht von Partikularinteressen im Vergleich zum allmählichen Vordringen von Ideen grob überschätzt wird. Natürlich nicht sofort, aber nach einer gewissen Zeitspanne…”
Auch das war eine vielleicht eine Übertreibung, aber jedenfalls war es nicht ganz falsch. So unterschiedliche Phänomene wie die Bekämpfung der Sklaverei, die Einführung des Frauenwahlrechts oder die Handelsliberalisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg entsprangen nicht oder nicht alleine wirtschaftlichen Kalkülen. Auch Keynes’ Zeitgenosse und intellektueller Gegenspieler Friedrich von Hayek hatte seinerzeit die Macht von Ideen betont.
Die seit Jahrzehnten verschüttete Erkenntnis von der Macht der Ideen kehrt in unserer Zeit im Gewand der Diskussion um Identität zurück. Die Ökonomen George Akerlof und Rachel Kranton hatten im Jahre 2011 in ihrem Buch „Identity Economics“ über die Ergebnisse eines 15 Jahre dauernden Forschungsprogramms berichtet, aber richtigen Schwung erhält die Debatte um die Rolle der Identität der Menschen für Politik und Wirtschaft erst in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Populismus.
Die Grundthese von Akerlof und Kranton lautet: Wer das wirtschaftliche Verhalten von Menschen analysieren will, darf ihnen nicht nur wie in herkömmlichen ökonomischen Modellen eine Maximierung ihres materiellen Nutzens unterstellen. Er muss auch berücksichtigen , dass Menschen Ideen umsetzen wollen, die sich aus ihrem Verständnis von Identität ableiten.
Viele Menschen definieren ihre Identität – also die Frage, wer sie sind – aus der Zugehörigkeit von klar abgrenzbaren Gruppen. Als Kategorien kommen unter anderem das Geschlecht, die Religion, die Nationalität, die Rasse oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation (alt oder jung) in Frage. Die Liste ist natürlich nicht vollständig.
Im ökonomischen Jargon versteht sich das Mitglied einer Gruppe als „Insider“, die anderen sind die „Außenseiter“. Akerlof und Kranton schreiben: „In jedem sozialen Kontext haben die Menschen eine Vorstellung, wer sie sind, was mit Überzeugungen einhergeht, wie sie und andere sich verhalten sollen.“ Sich zu einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen, kann das Selbstwertgefühl steigern.
Welche Kategorie gerade besonders wichtig für die Definition der eigenen Identität ist, hängt von den Umständen ab. Und diese Umstände sind beeinflussbar. „Ein Politiker kann durch das Versenden von Botschaften darüber, wer ein Insider und wer ein Außenseiter ist, über die Verbreitung von Stereotypen über rassische oder religiöse Minderheiten oder durch das Herumreiten auf Patriotismus und nationaler Identität eine bestimmte Kategorie der Identität mehr oder weniger hervorstechen lassen“, schreiben die Ökonomen Sharun Mukand und Dani Rodrik. Geradezu ein Klassiker geworden ist die Gegenüberstellung einer angeblich vaterlandslosen global denkenden Elite und der an das Vaterland denkenden und unter der Globalisierung leidenden Masse eines Volkes geworden. Die Ausbreitung antagonistischen Denkens in unserer Zeit – „wir“ oder „die“ – ist offensichtlich. Man darf dies bedauern, darf es aber nicht unterschlagen.
Menschen, die eine Zugehörigkeit zu der so von Politikern definierten geschundenen Masse der Bevölkerung als wichtigen Bestandteil ihrer Identität ansehen, werden häufig politisch auch für eine Begrenzung des Freihandels eintreten, selbst wenn sie in wirtschaftlicher Hinsicht persönlich von der Globalisierung profitieren. Denn indem sie die Ideen der Gruppe teilen, zu der sie sich gehörig fühlen, steigern sie ihr Selbstwertgefühl.
Hier dominiert in der individuellen Nutzenmaximierung die Bestätigung der eigenen Identität den wirtschaftlichen Schaden durch Zölle. Und so ist denn auch erklärbar, warum Donald Trump nicht nur von wirtschaftlich Abgehängten gewählt wurde, sondern von Menschen, denen es wirtschaftlich gut geht und die aus ökonomischer Sicht keinerlei Anlass haben, für Handelsbeschränkungen einzutreten.
Der traditionelle Ökonom, der vor allem auf die Bedeutung wirtschaftlicher Partikularinteressen schaut, kann dies nicht vernünftig erklären und er wird vielleicht sogar versucht sein, das Wahlverhalten dieser Menschen als irrational abzutun. Der Ökonom, der auch auf die Macht der Ideen schaut, kann es sehr wohl. Für spezialisierte Sozialpsychologen und Politologen sind das ohnehin keine neuen Nachrichten. Die Wirtschaftswissenschaften haben hier noch einen, mittlerweile aber immerhin erkannten Nachholbedarf.
Diese Erkenntnis ist eine Sache, ihre Berücksichtigung in der Arbeit von Ökonomen eine andere. Daher ist es höchst verdienstlich, dass nunmehr mit Gene Grossman und Elhanan Helpman zwei Mainstreamökonomen einen Versuch unternommen haben, Fragen der Identität in die mathematisch formulierte Welt der Modelle internationalen Handels einzubauen.
Die Arbeit von Grossman und Helpman gelangt zu zwei wesentlichen Erkenntnissen. Die wachsende Ungleichheit der Einkommen in den Vereinigten Staaten ist eine wichtige Quelle einer Zunahme des Denkens in Identitäten, das sich gegen die Globalisierung richtet – und zwar ganz unabhängig davon, welche Rolle die Globalisierung für die gewachsene Ungleichverteilung der Einkommen überhaupt besitzt: „Sobald die Elite klein genug in der Bevölkerung geworden ist, sorgt eine populistische Revolution für eine wachsende Nachfrage nach Protektionismus.“
In einem weiteren Schritt fragen die Autoren, ob auch wachsende ethnisches Spannungen die Nachfrage nach Protektionismus befördern. „Die weiße Arbeiterklasse, und hier besonders Männer, sind eine größere Macht für die Identitätspolitik geworden“, konstatieren sie mit Blick auf Amerika. Hieraus leite sich weniger eindeutig eine Präferenz für eine protektionistische Handelspolitik ab. Aber das muss nicht so bleiben und es wäre sehr zu wünschen, wenn Grossman/Helpman weitere Arbeiten stimulieren könnten.
In etwas veränderter Form ist dieser Beitrag am 17. Februar 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung erschienen.