Auf dem Land haben die Leute weniger Geld, behauptet das Klischee. Daran gibt es jetzt Zweifel.
Menschen auf dem Land haben es schwer – so hat Deutschland es in den vergangenen Jahren gelernt. Öffentlichen Nahverkehr gibt es kaum, Supermärkte und Bäcker machen reihenweise dicht. Über den Mangel an schnellen Internetanschlüssen muss man nicht mehr reden, und im Notfall sind sogar die Krankenhäuser weit weg. Kein Wunder, dass die Deutschen in die Städte ziehen oder wenigstens in deren Speckgürtel. Dort werden die Wohnungen knapp und teuer. Das Wohnen im Ballungszentrum wird zum Privileg. Auf dem Land aber ist Omas eigenes Häuschen schon lange nicht mehr so viel wert, dass es noch als Altersvorsorge dienen könnte. Das wirkt sich auch auf die Politik aus: Auf dem Land sind die Wahlergebnisse für Rechtspopulisten besser; die neue Kluft liegt eben zwischen Stadt und Land.
So oder so ähnlich war es in den vergangenen Monaten zu hören, und ganz unwahr ist das alles nicht. In langen Datensammlungen hat die Bundesregierung dokumentiert, wie es Deutschlands Landbevölkerung schwieriger hat als die Leute in der Stadt. In anderen Ländern ist die Lage ähnlich. War es nicht beispielsweise in den Vereinigten Staaten die unzufriedene Landbevölkerung, die Donald Trump ins Amt geholt hat?
Warum verdient man in der Stadt mehr?
Dazu kommt: Auf dem Land verdient man auch noch weniger. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern praktisch überall auf der Welt – sei es in Amerika oder in Frankreich, sogar in Japan. Das liegt nicht nur daran, dass in der Stadt mehr Akademiker leben. Selbst die gleiche Tätigkeit wird in der Stadt deutlich besser bezahlt als auf dem Land – die Stadt steigert die Produktivität der Leute. Wenn in einem Einzugsgebiet doppelt so viele Menschen leben wie in einem anderen, dann sind dort bei gleicher Ausbildung, gleichem Geschlecht und gleichem Alter die Löhne 3,7 Prozent höher. So haben es im vergangenen Jahr die Ökonomen Wolfgang Dauth, Sebastian Findeisen, Enrico Moretti und Jens Südekum ausgerechnet. Im Einzugsgebiet von München leben aber beispielsweise nicht doppelt, sondern mehr als zehnmal so viele Menschen wie im Einzugsgebiet einer Kleinstadt wie Daun in der Eifel. Da entstehen schnell Gehaltsdifferenzen, neben denen die Unterschiede von Männern und Frauen mickrig wirken.
Woher kommt das? Einerseits sitzen viele große Unternehmen oft in den Städten, und die bezahlen häufig mehr. Andererseits aber rechnen die Autoren aus: In der Stadt finden besonders gute Mitarbeiter oft auch zu besonders erfolgreichen Unternehmen, so dass dann besonders hohe Löhne gezahlt werden – in einem viel höheren Ausmaß als auf dem Land. Dafür geben die Autoren ein Beispiel: Wenn eine erfolgreiche chemische Fabrik in München einen guten Chemieingenieur sucht, dann findet sie viel leichter einen als eine chemische Fabrik in Balingen. Schließlich gibt es in München mehr davon: Jährlich schließen dort 106 Chemieingenieure aller Qualität einen Arbeitsvertrag ab, in Balingen nur zwei.
Diesen Effekt kennt man nicht nur vom Arbeitsmarkt. Egal, ob es um Gebrauchtwagen geht oder um Aktien an der Börse – je mehr auf einem Markt los ist, desto besser ist das für alle Beteiligten, einfach weil jeder für seine Bedürfnisse eher einen passenden Partner findet. „Liquidität“ nennen das die Ökonomen. Auch deshalb sind Branchencluster, in denen viele Unternehmen und viele Arbeitnehmer aus einer einzelnen Branche eng zusammen angesiedelt sind, oft besonders erfolgreich.
„Assortative Matching“ macht die Stadt erfolgreich
„Assortative Matching“ („ordnende Kombination“) nennen die Autoren das Zusammenfinden passender Unternehmer und Bewerber. Für die deutschen Großstädte rechnen sie aus, dass dieser Effekt fast die Hälfte der höheren Löhne in der Stadt ausmacht. Südekum betont, dass das Lohngefälle in Deutschland derzeit zunimmt, auch wenn es schwächer ist als in anderen Ländern.
Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Leute in der Stadt sich auch mehr kaufen können. In der Stadt sind die Wohnungen teurer. Oft gilt das auch für die Milch, schließlich müssen die Supermärkte höhere Mieten finanzieren können, und auch für den Friseur, denn die Städter können mehr zahlen. Auch Friseure wollen mehr verdienen, wenn die Kosten in der Stadt höher sind. Nur der öffentliche Dienst tut sich schwer damit, Leute in großen und teuren Städten besser zu bezahlen als die Leute auf dem Land. Immerhin aber bekommen die Städter für ihre hohen Kosten den Luxus, von all den Annehmlichkeiten der Stadt zu profitieren. Der Harvard-Ökonom Edward Glaeser hat das jüngste Standardwerk zu den Vorzügen der Stadt geschrieben: „Der Triumph der Stadt“.
Die Einkommen in den Städten sind niedriger
Doch jetzt gibt es Zahlen, die diese Diskussion in ein neues Licht rücken – zumindest in Deutschland. Vorgestellt wurden sie am vergangenen Mittwochabend bei der Feier zum 100. Geburtstag des Wirtschaftsministeriums, und zwar vom Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Er hat festgestellt, dass die Gesamteinkommen der Deutschen in Städten durchschnittlich niedriger sind als auf dem Land. Je höher die Einwohnerdichte in einem Landkreis, desto geringer ist demnach das monatliche Durchschnittseinkommen. Im Jahr 1994, kurz nach der Wiedervereinigung, sah das in Ostdeutschland noch anders aus: Damals hatten die städtischen Regionen noch die höheren Löhne. Doch schon zehn Jahre später hatte sich die Tendenz im Osten an die im Westen angepasst.
Was ist in den Städten los? Auf Twitter haben Ökonomen vergangene Woche heftig diskutiert. Am Ende der Woche verwies Fuest unter anderem darauf, dass in Deutschland mittelständische Unternehmen außerhalb der großen Städte gut bezahlte Arbeitsplätze bieten – und auch darauf, dass einige ländliche Regionen im Speckgürtel der Städte von deren Wirtschaftskraft profitieren. Eine andere Erklärung könnte sein, dass es in den Städten besonders viele Leute gibt, die geringe Einkommen haben oder keinen Arbeitslohn beziehen und deshalb in der Lohn-Statistik nicht auftauchen, zum Beispiel Studenten und Empfänger von Sozialleistungen.
Eines jedenfalls betont Fuest: Die Ungleichheit ist in der Stadt höher als auf dem Land. Er sieht einen Effekt am Werk, der wie das „assortative matching“ offenbar in großen Städten stärker ist. Dieser Effekt heißt im Ökonomen-Jargon „assortative mating“ („ordnende Paarung“): Gut gebildete und einkommensstarke Leute suchen sich ebenso gut gebildete und einkommensstarke Partner. Auch das geht in der Stadt einfacher, weil die Auswahl größer ist.