Wer Papierkram hasst, weiß nicht, was wir ihm zu verdanken haben.
Fast zwei Drittel der Deutschen finden, dass es zu viel von ihr gibt, JP-Morgan-Chef Jamie Dimon hält sie für eine “Krankheit”, und die Bundesregierung hat ihr den Kampf angesagt: Die Bürokratie ist der Feind.
Abstempeln, abheften, archivieren, das mag an der ein oder anderen Stelle notwendig sein, aber unter dem Strich machen Bürokraten mit ihren Paragraphen und Formularvordrucken einem das Leben schwer. So denken die meisten – und übersehen dabei, dass der Bürokrat in Wahrheit eine edle Tätigkeit ausübt; eine Tätigkeit, ohne die unser kapitalistisches System zusammenbrechen würde. Und zwar nicht, weil Verwaltungen und Betriebe ohne Bürokratie nicht arbeitsfähig wären, sondern weil die Bürokratie noch eine ganz andere, in Zukunft unersetzliche Rolle übernimmt.
Dazu gleich mehr, zuerst ein paar Fakten. Trotz aller Versuche, die Bürokratie auszumerzen, ist sie quicklebendig. Etwa 40 Milliarden Euro geben Unternehmen hierzulande Jahr für Jahr aus, um Melde- und Betriebspflichten zu erfüllen, die durch Gesetze und Verordnungen entstehen. Die Summe hat sich in den vergangenen Jahren wenig verändert. Für diejenigen, die die Bürokratie eindampfen wollen, ist das eine schlechte Nachricht. Denn die Bundesregierung tut einiges, um den Kampf zu gewinnen. Sie hat einen “Nationalen Normenkontrollrat” damit beauftragt, die Bürokratiekosten aller neuen Gesetze zu messen. Seit 2015 greift zudem eine “Bürokratiebremse” für die Wirtschaft. Für jede neue Belastung, die sich ein Ministerium ausdenkt, muss es die Wirtschaft an anderer Stelle entlasten. “One-in-one-out” heißt diese Regel, die wahrscheinlich genau wie der Normenkontrollrat einiges an Papierkram verursacht. Der Bürokratieabbau gleicht einer Sisyphusarbeit. Kaum gibt es an einer Stelle eine Entlastung, wird der Aktenberg anderswo noch höher. Aktuell schafft die Regierung mit der sogenannten Nachunternehmerhaftung für Paketdienste und dem Mindestlohn für Auszubildende zusätzlich Bürokratie, während Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) von einem Gesetz, das für weniger Bürokratie sorgen soll,
Die Verteidigungsschrift, in der die Bürokratie nicht als Monster, sondern als “Rettung” daherkommt, stammt nicht von Franz Kafka, sondern von Mathias Binswanger. In seinem gerade erschienenen Buch “Der Wachstumszwang” wandelt der Schweizer Volkswirtschaftsprofessor von der Fachhochschule Nordwestschweiz auf den Spuren seines im vergangenen Jahr verstorbenen Vaters Hans Christoph Binswanger. Der hatte mit Hilfe eines Modells beschrieben, dass eine Volkswirtschaft nicht einfach bei einer bestimmten Größe stehenbleiben könne: “Die Alternative zum Wachstum ist nicht Stabilisierung auf dem heute erreichten Niveau, sondern Krise bzw. Schrumpfung.” Binswanger junior vertieft diese Gedanken nun und legt dar, dass in einem kapitalistischen System das Rad niemals stillstehen darf. Unternehmen seien gezwungen, immer aufs Neue Gewinne zu erwirtschaften, weil sonst eine unheilvolle Abwärtsspirale drohe. John Maynard Keynes hatte das noch ganz anders gesehen und einen “Steady State” für möglich gehalten. Was die Bürokratie mit Wirtschaftswachstum zu tun hat? Sie kommt ins Spiel, weil es eine ständige Tendenz gebe, “mit Hilfe von technischem Fortschritt Arbeit einzusparen”. Maschinen und Roboter machen Menschen arbeitslos, was den Konsum schwäche und permanente Krisen auslösen könne. Es gibt also einen Widerspruch: Der Kapitalismus braucht, um zu bestehen, zwar einerseits Innovationen und immer produktivere Maschinen – aber zugleich auch nahezu Vollbeschäftigung. Eigentlich ist das kein Problem. In der Vergangenheit haben industrielle Revolutionen stets dazu geführt, dass mehr neue Arbeitsplätze entstanden sind als beispielsweise durch Webstuhl und Dampfmaschine weggefallen waren. Binswanger hält diese Dynamik im Zeitalter Künstlicher Intelligenz und menschenleerer Fabriken allerdings für keinen Selbstläufer mehr. Schließlich warnen Forscher vor enormen Arbeitsplatzverlusten – wo die vielen neuen Stellen herkommen sollen, bleibt erst einmal unklar.
Hier setzt Binswanger auf die Bürokratie. “Einerseits behindert diese Menschen und Wirtschaft in ihrer Entfaltung und macht das Leben insgesamt unattraktiver und komplizierter”, gesteht er ein. “Andererseits brauchen wir diese Bürokratie aber, damit noch ausreichend Menschen beschäftigt werden können, wenn es gleichzeitig immer weniger Menschen in der Produktion braucht.” An Beispielen aus Krankenhäusern und Kanzleien zeigt der Forscher, wie aus Bürokratie immer noch mehr neue Bürokratie entsteht. “Die Ausarbeitung neuer Regelwerke für Datenschutz oder die Einführung eines neuen Qualitätsmanagements an einer Stelle zwingt wiederum an anderer Stelle zur Auseinandersetzung und Anpassung an die neuen Bestimmungen, was oft weitere Regelwerke nach sich zieht und die Tätigkeiten komplizierter macht.” Ein aktuelles Beispiel: Der Deutsche Anwaltsverein beziffert die Kosten für neue Datenschutzerklärungen, die durch die “DSGVO” im vergangenen Jahr notwendig wurden, auf rund 400 Millionen Euro. Schon Max Weber habe erkannt, dass aus einer komplexeren Wirtschaft und komplexeren gesellschaftlichen Prozessen zwingend mehr Bürokratie entstehen müsse.
Ob das alles sinnvoll ist? Binswanger stimmt dem Anthropologen David Graeber zu, der mit der These der immer stärker verbreiteten “Bullshit-Jobs” Schlagzeilen gemacht hat. Wie Graeber bleibt aber auch Binswanger relativ vage bei der Frage, warum Bullshit-Jobs überhaupt entstehen und jemand dafür bezahlt, wenn es doch keinen offensichtlichen Nutzen gibt. Der Ökonom sieht “die Rationalität kapitalistischer Wirtschaften” am Werke, die gerade darin liege, dass sie auch Jobs generiere, die nach herkömmlicher Betrachtung wenig Sinn machen, um so höhere Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Nachfrage nach den meisten dieser Jobs ergebe sich sehr wohl aus konkreten Notwendigkeiten im Einzelfall. “So würden wohl viele Menschen zustimmen, wenn man den Beruf eines Zertifizierungsauditors als Bullshit-Job bezeichnet.” Zertifizierungssysteme seien aber Teil der heute herrschenden neuen Bürokratie, in der man sicherstellen möchte, dass Qualitätsmanagementnormen in Unternehmen oder öffentlichen Organisationen eingehalten werden. Habe man Zertifizierungssysteme erst einmal eingeführt, dann würden Zertifizierungsauditoren zwingend gebraucht. Jedes Formular und jeder Gang in die Behörde hat demnach seinen tieferen Sinn – denken wir einfach daran, wenn wir das nächste Mal Elterngeld beantragen oder unsere Steuererklärung machen. bislang nur redet.