In Deutschland ist das Thema nach wie vor völlig unterbelichtet, während es in der internationalen Debatte eine wesentliche Rolle spielt: Die Rede ist von der wachsenden Bedeutung sogenannten immateriellen Kapitals für die Entwicklung von Wirtschaft, Zins und Inflation.
Gemeint sind mit immateriellem Kapital unter anderem Software, Patente und Markenrechte, geistiges Eigentum und neue Produktionsverfahren. Immaterielles Kapital ist schon seit langem bekannt; an Bedeutung hat es in den vergangenen Jahrzehnten durch den technischen Fortschritt gewonnen, der alte Industriegesellschaften in moderne Wissensökonomien transformiert.
Im Widerspruch zur zunehmenden Bedeutung immateriellen Kapitals steht seit rund 20 Jahren eine auffallend geringe Zunahme physischen Kapitals durch traditionelle Sachinvestitionen in Immobilien, Fabriken und Ausrüstungen trotz sehr niedriger Zinsen. Dieses Phänomen wird von Ökonomen vor allem mit Blick auf die Vereinigten Staaten untersucht. Die bescheidene Investitionstätigkeit ist lange als ein Rätsel bezeichnet worden, denn nicht nur waren die Finanzierungskosten angesichts niedriger Zinsen und zumeist hoher Aktienkurse gering. Von der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 abgesehen, erfreute sich die amerikanische Wirtschaft eines soliden Wirtschaftswachstums. Das Umfeld für Sachinvestitionen war günstig.
Tatsächlich investierten manche Branchen kräftig, darunter die Öl- und Gasindustrie in Plattformen und Pipelines. Aber die Bedeutung dieser Industrien ist für die amerikanische Wirtschaft rückläufig. Ebenso hat die Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes nachgelassen. Hier mag die Verlagerung von Produktionskapazitäten ins Ausland eine Rolle gespielt haben. Ihren Anteil an der Wirtschaftsleistung steigern konnten die Hochtechnologie- sowie die Konsumbranche, aber in diesen Zweigen ist die Bildung von Sachkapital unter den Erwartungen geblieben. Alles in allem blieben die physischen Investitionen trotz eines überwiegend ansehnlichen Wirtschaftswachstums hinter zahlreichen Prognosen.
Traditionelle Ökonomen haben die unerwartet schwache Investitionstätigkeit auf traditionelle Weise zu erklären versucht: durch schlechte Wirtschaftspolitik, die Investitionen abschreckt, und durch eine expansive Geldpolitik, die eher zu Spekulationen an Finanzmärkten als zu Sachinvestitionen einlädt. Im Laufe der Jahre erkannten moderne Ökonomen, dass mit dem technischen Fortschritt eine sehr viel mächtigere Kraft am Wirken sein dürfte.
Wir haben das Thema in FAZIT schon mehrfach behandelt (zum Beispiel hier und hier). Aber nicht nur die empirische Bedeutung dieser Phänomene bedarf noch weiterer Untersuchungen. Daher stellen wir im Folgenden eine weitere Studie vor, die vor wenigen Tagen veröffentlicht worden ist.
“Die Unternehmen nutzen immer mehr andere Faktoren als Immobilien, Fabriken und Ausrüstungen für ihre Produktion und ihre Verkäufe”, heißt es in einer aktuellen Arbeit der Ökonomen Nicolas Crouzet und Janice Eberly. “Im Besonderen stützen sie sich auf Faktoren, die als immaterielles Kapital bekannt sind. Zum Beispiel stützen sie sich viel stärker als ihre Vorgänger auf Software im Produktions- und Verkaufsprozess. Eine Internetplattform ist für einen Onlineverkäufer eine ebenso wichtige Einnahmequelle wie eine Ölplattform für ein Energieunternehmen.”
Crouzet und Eberly haben, wie schon andere in den Vereinigten Staaten forschende Ökonomen zuvor, die Bedeutung immateriellen Kapitals zu schätzen versucht. Ihre erste Erkenntnis ist wenig erstaunlich: Unter Berücksichtigung der Investitionen in immaterielles Kapital ist die gesamte Investitionstätigkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht mehr ungewöhnlich niedrig. Eine wichtige zweite Erkenntnis besagt, dass die Zunahme immateriellen Kapitals über deutliche Produktivitätszuwächse eine Quelle der zunehmenden Konzentration in vielen Zweigen der amerikanischen Wirtschaft darstellt. Das gilt unter anderem für die Konsumgüterindustrie. “Dieses Ergebnis liegt intuitiv nahe”, schreiben Crouzet und Eberly. “Denn die Konsumgüterbranche ist durch Prozessinnovationen, die von der Lagerhaltung über den Vertrieb durch Internetplattformen verändert worden, die das Ergebnis der Bildung immateriellen Kapitals sind.”
Dieser Wandel in der Industrie besitzt Folgen für die Politik. So dürfte er die Wirksamkeit der Geldpolitik einschränken, denn die Bildung immateriellen Kapitals dürfte weniger sensibel auf Zinsänderungen reagieren als die Bildung traditionellen Sachkapitals. Außerdem eignet sich immaterielles Kapital weniger als Sicherheit für Kredite als Grundstücke, Immobilien oder Fabriken. “Die Politik sollte sich auf andere Hebel als Zinssätze konzentrieren, darunter auf die Stärkung von Regeln zur Sicherung von Wettbewerb und Eigentumsrechten sowie auf die Förderung der Bildung immateriellen Kapitals”, schlussfolgern Crouzet und Eberly.