Leistung und mehr Arbeit im Internet treiben die Ungleichheit der Einkommen, nicht böser Wille oder technischer Fortschritt oder schlechte Ausbildung. Ist die Welt doch gerecht?
Für die zunehmende Ungleichheit der Einkommen in den westlichen Industriestaaten gibt es viele Gründe und Erklärungen. Es beginnt beim technischen Wandel und geht über die Konkurrenz durch chinesische, indische oder südostasiatische Arbeitskräfte in einer wirtschaftlich integrierten Welt bis hin zur schlechten Ausbildung vieler Leute für neue Berufe und Herausforderungen.
Unabhängig von ihrer Qualität ist diesen Argumenten gemein, dass darin die im Einkommen Zurückbleibenden wehrlos einem Schicksal ausgesetzt sind, das ihnen von außen aufgezwungen wird. Die Debatte um die zunehmende Spreizung der Einkommen zeichnet sich dadurch oft durch einen negativen Grundton aus.
Ein neues Argument verspricht nun eine erfrischend andere Sicht auf die Dinge. Leistung, so behaupten die Ökonomen Rodrigo Fuentes und Edward Leamer in einer Studie, sei der bisher unerkannte Faktor der amerikanischen Einkommensungleichheit. Das erlaubt im Prinzip die Vermutung, dass die individuelle Einkommenshöhe kein unabwendbares Schicksal ist, sondern dass sie auch etwas mit individueller Anstrengung und Leistungsbereitschaft zu tun hat. Dass die beiden Autoren dennoch pessimistisch bleiben, gehört zu den großen Rätseln ihrer Analyse, die als Arbeitspapier vom renommierten „National Bureau of Economic Research“ veröffentlicht wurde.
Überstunden am Netz
Leistung definieren die beiden Ökonomen als Arbeitsstunden, die sich in höheren Einkommen niederschlagen. Die Ungleichheit der Einkommen rührt ihrer Ansicht nach zu einem großen Teil daher, dass die am besten Ausgebildeten immer mehr arbeiten. Die Autoren meinen damit Angestellte in der neuen Arbeitswelt rund um das Internet. Es ist die Welt des Hochschulabsolventen oder des technischen Spezialisten, der mit seinem Smartphone am Netz hängt, ständig erreichbar und bereit ist, mit einem ausländischen Kunden zu telefonieren. Es ist die Welt des Software-Programmierers, der zu Hause arbeitet und 60 Wochenstunden oder mehr schiebt. Es ist die Welt des Angestellten, der mit seinem tragbaren Computer im Wohnzimmer zwischen Abendessen und Tagesschau noch eben einen Vertrag abschließt oder dem Chef eine Präsentation anfertigt.
Die Daten der Analyse belegen, dass die besser Ausgebildeten in Amerika nicht nur mehr arbeiten als die weniger gut Ausgebildeten, sondern auch mehr arbeiten als Hochschulabsolventen noch vor vier Jahrzehnten. 1980 arbeiteten sie im Mittel 1930 Stunden im Jahr, 2016 waren es 2109 Stunden. Für College-Studenten mit kürzerem Studium waren es damals 1872 Stunden, heute sind es 2009 Stunden. Amerikaner mit einem regulären High-School-Abschluss, vergleichbar mit dem deutschen Abitur, arbeiteten dagegen nahezu unverändert viele Stunden im Jahr.
Mehr Arbeit zahlt sich aus
Die Leistungsunterschiede schlagen sich nach der Studie in Einkommensunterschieden nieder. Hochschulabsolventen verdienten 2016 im Schnitt 94967 Dollar im Jahr oder 41 Prozent mehr als 1980. College-Absolventen erzielten ein Plus von 17 Prozent auf 65865 Dollar. In den niedrigeren Bildungsniveaus aber sanken die um die Inflation bereinigten Einkommen. Das reale Jahreseinkommen normaler Schulabsolventen ging um 12 Prozent auf 33278 Dollar zurück. Noch schlechter entwickelten sich die Einkommen der Amerikaner, die noch vor dem High-School-Abschluss die Schule verließen. Basis für diesen Vergleich in den Vereinigten Staaten ist eine umfassende regelmäßige Umfragestatistik über die Lage der Menschen in den amerikanischen Kommunen.
In diese auseinanderlaufende Entwicklung der Einkommen spielen unterschiedlichste Gründe hinein. Fuentes und Leamer nennen als einen wichtigen Faktor für die zurückgehenden Einkommen regulärer Schulabsolventen das Ausbluten des amerikanischen verarbeitenden Gewerbes, das in andere Länder wie China oder Mexiko abwandere, wo die Produktion günstiger ist. Der deutliche Anstieg der Einkommen der besser Ausgebildeten aber gründe zu einem großen Teil schlicht und einfach darin, dass sie mehr Stunden arbeiteten. Das lässt sich daran erkennen, dass die Ungleichheit gemessen am Jahreseinkommen stärker gestiegen ist als gemessen am Stundeneinkommen.
„Leistung lohnt sich“ beschreibt insoweit das Ergebnis dieser Analyse, die das Herz jedes Liberalen erfreuen müsste. Wer diese Art der Ungleichheit als schädlich und korrekturbedürftig ansieht, der müsste den gut Ausgebildeten schon verbieten, mehr zu arbeiten. Mit einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung wie in den Vereinigten Staaten ist das kaum zu vereinbaren.
Eine neue Internet-Aristokratie?
Fuentes und Leamer sind dennoch pessimistisch gestimmt. Sie warnen, dass von der neuen flexiblen Arbeitswelt vorrangig diejenigen profitierten, die mit der neuen Computer-Technik in langen Arbeitsstunden Werte schaffen könnten. Das setze natürliches Talent und eine gute Ausbildung voraus. Die beiden Ökonomen malen das Bild eines neuen viktorianischen Zeitalters an die Wand, in dem eine kleine Schicht gut Verdienender sich vom Rest der Bevölkerung in gering bezahlten Stellen bedienen lässt. Vielleicht haben die beiden Ökonomen zu viele Folgen der britischen Fernsehserie „Downton Abbey“ gesehen. Vielleicht suchen sie durch gewagte Vergleiche auch schlicht mehr Aufmerksamkeit.
In ihrer eigenen Analyse jedenfalls findet sich eine Grafik, die ihre Ängste konterkariert und eine positive Sicht der Dinge stützt. Der Anteil der amerikanischen Arbeiter und Angestellten mit College- oder Hochschulabschluss hat sich danach in den vergangenen vier Jahrzehnten von weniger als 20 Prozent auf 42 Prozent mehr als verdoppelt. Das sind die Amerikaner, die nach Meinung der Autoren zumindest im Prinzip fähig sind, mit Computern und dem Internet in der neuen Arbeitswelt umzugehen, und deren Einkommen im Mittel der Gruppe steigt. Im Gegenzug ging der Anteil der Amerikaner, die noch vor dem Abitur die Schule verließen, von mehr als 20 Prozent auf knapp 7 Prozent zurück. Sie seien „fast verschwunden“, schreiben die Autoren.
Diese Zahlen deuten darauf hin, dass Amerikas Arbeiter sich weit flexibler an die neue Arbeitswelt anpassen, als das Zerrbild eines „neuen viktorianischen Zeitalters“ es vermuten lässt. Die Einkommensungleichheit zwischen den Bildungsklassen mag zwar zugenommen haben. Doch wen stört das in einer freiheitlichen Gesellschaft, wenn weit mehr Amerikaner als zuvor höhere Bildungsabschlüsse erreichen und von den steigenden Einkommen profitieren? Die Grafik in der Analyse legt den Schluss nahe, dass Leistung sich auch für viele lohnt – selbst wenn die Autoren diesen Schluss nicht so ganz teilen wollen.
Dieser „Sonntagsökonom” erschien am 15. Dezember in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.