Unter Ökonomen tobt die Debatte über Wege aus der Krise. Frankreich diskutiert besonders heftig. Nobelpreisträger Jean Tirole glaubt vor allem an die EZB, weil ihre Hilfen „weniger transparent für die Öffentlichkeit“ sind. Von Christian Schubert, Paris
Frankreich blockiert seine Wirtschaft länger als andere europäische Länder. Weil die Covid19-Krise noch nicht unter Kontrolle ist, soll die Ausgangssperre erst vom 11. Mai an schrittweise aufgehoben werden. Mit jedem Tag wächst der wirtschaftliche Schaden. Auf 120 Milliarden Euro schätzt das Pariser Beratungsinstitut OFCE den Rückgang der wirtschaftlichen Leistung in den acht Wochen bis zum 10. Mai.
Damit rückt auch stärker ins Bewusstsein, dass die Corona-Krise nicht nur eine Angebots-, sondern auch eine Nachfragekrise ist. Auf 55 Milliarden Euro schätzt das OFCE die „erzwungenen Ersparnisse“ der Franzosen während der zweimonatigen Ausgangssperre. Das Brutale an der Corona-Krise ist, dass sie gleichzeitig eine Angebotskrise oder eine Krise der Unternehmen ist sowie eine Krise der Nachfrage, also ein Konsumeinbruch. Während viele Betriebe geschlossen sind, sitzen viele Verbraucher zuhause; die Online-Bestellungen reichen nicht annähernd an die sonstigen Konsumausgaben heran.
Die französische Regierung blickt daher nicht nur voller Unruhe auf die Zahl der Infizierten, sondern auch auf die Sparquote ihrer Bürger. Die Franzosen sparen traditionell vergleichsweise viel, zwischen 2010 und dem dritten Quartal 2019 sank der Anteil der Ersparnisse an den verfügbaren Einkommen nur von 15,8 auf 14,9 Prozent. Die Corona-Krise lässt die Ersparnisse nun nach oben schießen. Alleine auf die steuerbegünstigten Sparbücher namens Livret A haben die Franzosen in diesem März 50 Prozent mehr zurückgelegt als ein Jahr früher und erreichen damit den Rekordstand von mehr als 306 Milliarden Euro. Das Geld fließt vor allem in den sozialen Wohnungsbau und zum Teil in Staatsanleihen. Die französische Regierung sorgt sich, dass die Mittel nicht den Unternehmen zugutekommen.
Eric Chaney, Chefökonom beim Institut Montaigne in Paris, hält eine Steigerung der Sparquote von knapp 15 auf 25 Prozent für möglich. „Das ist eine automatische Entwicklung. Man hat die Gehälter durch das Kurzarbeitergeld quasi verstaatlicht, und gleichzeitig kann man nicht einkaufen“, sagt er. Verheerend wäre es jedoch, wenn die hohe Sparquote ein dauerhaftes Phänomen bliebe, weil es den Menschen aus Furcht vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder gesundheitlichen Gefahren an Vertrauen fehlt. Das Angstsparen könnte eine der größten Herausforderung der wirtschaftlichen Erholung werden.
Nach den jüngsten Zahlen erhalten derzeit 9,6 Millionen Franzosen Kurzarbeitergeld – fast einer von zwei Beschäftigten im Privatsektor. Die Regierung beschreibt die französische Kurzarbeit als das großzügigste Versorgungssystem dieser Art in Europa, weil sie 84 Prozent der Nettoeinkommen erstattet. Mit dem 11. Mai sollen die Zuwendungen schrittweise sinken. Ansonsten herrscht aber noch viel Unklarheit über den Neustart der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU. Die Rezepte gegen die Krise sind in der ökonomischen Debatte heftig umstritten.
Volkswirte lassen sich häufig in Freunde einer Angebots- oder einer Nachfragepolitik unterteilen. Erstere wollen die Bedingungen für die Unternehmen verbessern, um für Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu sorgen, letztere achten stärker auf die Kaufkraft von Arbeitnehmern und anderen Verbrauchern, womit sie auch die soziale Gleichheit höher gewichten. Was aber passiert in der Corona-Krise, die gleichzeitig eine Angebots- und eine Nachfragekrise ist?
In Frankreich neigte die Waage unter den Ökonomen immer schon mehr zur Nachfrageseite in der Denktradition des Ökonomen John Maynard Keynes. Doch andere Stimmen verschaffen sich seit geraumer Zeit Gehör. So fordert Ökonom Chaney nun, Maßnahmen zugunsten der Unternehmen zu verstärken. „Wir müssen offensiv Investitionen fördern“, sagt er. Das heißt nicht nur, Unternehmen vor dem Bankrott zu retten, sondern sie „radikal“ zum Investieren zu ermutigen, indem der Staat etwa 10 Prozent aller Investitionen direkt finanziere. „Es geht jetzt darum, die Unsicherheit abzubauen“, sagt Chaney.
Jean-Marc Daniel, Ökonomie-Professor an der Pariser Hochschule ESCP, tritt ebenfalls dafür ein, „den Produktionsapparat“ zu stützen. Er gehört nicht zum Mainstream der französischen Volkswirte, doch er ist so etwas wie das wirtschaftsliberale Gewissen Frankreich, der jeden Morgen im Wirtschaftsradio- und Fernsehsender „BFM Business“ an die Vorzüge der Marktwirtschaft erinnern darf. „Wir haben kein Nachfrageproblem in Frankreich. Besser als Leuten Geld zu schenken, die es nicht brauchen, wäre es allen, die ein eigenes Unternehmen haben, 2000 oder 3000 Euro zu überweisen“, meint er.
Daniel hat zudem eine andere Idee, die freilich höchst unpopulär ist: Frankreich sollte künftig nicht nur mehr Schulden machen, sondern auch die Rentner höher besteuern. Schließlich sei die Bekämpfung der Corona-Krise vor allem eine große intergenerationelle Anstrengung zugunsten der älteren Bevölkerung. Der Ökonom erhebt seine Forderung vor dem Hintergrund, dass es den französischen Rentnern im Vergleich mit der aktiven Bevölkerung im Durchschnitt vergleichsweise gut geht.
So wie es Präsident Emmanuel Macron schon zu Beginn seiner Amtszeit tat, sollte Frankreich die Sozialsteuer CSG für alle Franzosen erhöhen, aber für den arbeitenden Teil der Bevölkerung die Sozialabgaben senken. So entstünde ein neuer Anreiz zur Mehrarbeit, die Frankreich nötig habe, sagt Daniel, der angesichts seines Alters von 66 Jahren nicht in Verdacht gerät, für seine Generation Vorteile zu suchen. Der immer scharf formulierende Leitartikler Eric Le Boucher springt ihm zur Seite. Angesichts der „französischen Präferenz für die Nicht-Arbeit“ warnte er in der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ vor dem Risiko, „dass Frankreich in der ganzen Welt am längsten im wirtschaftlichen Stillstand verharrt“.
Wenn es um Steuererhöhungen geht, sind die die Freunde der Umverteilung nicht weit. Daher ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer in die Debatte zurückgekehrt, gefordert unter anderem von der Fraktionsvorsitzenden der Sozialisten in der Nationalversammlung, Valérie Rabault. Macron hatte die Vermögenssteuer durch eine Begrenzung auf das Immobilienvermögen teilweise abgeschafft. Doch die alte Steuer brachte nur rund 3 Milliarden Euro im Jahr an Einnahmen, alleine schon aus diesem Grund fand die Idee bisher wenig Widerhall. Der Erfolgsautor Thomas Piketty („Das Kapital“) – Befürworter einer weltweiten Vermögenssteuer – empfiehlt den Nationen indes einen Weg, wie ihn Deutschland in den fünfziger Jahren einschlug: Einen Teil der Schulden nicht zu tilgen und einen Lastenausgleich durch die Heranziehung der Vermögenden vorzunehmen. Auch in Japan habe das funktioniert. „Es war ein riesiger Erfolg, es erlaubte den Schuldenabbau und die Investitionen in den Wiederaufbau“, sagte Piketty in einem Interview.
Anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist der Produktionsapparat heute freilich unbeschädigt. Doch weil dieser künftig angeblich nicht mehr genügend Leute ernähren könne, bringt das linke Lager eine weitere Forderung zurück auf den Tisch: Das bedingungslose Grundeinkommen, das durch Ausbildungsmaßnahmen ergänzt werden solle. „Damit könnte unser Produktionsapparat alle Arbeitskräfte bekommen, die er für den Neustart braucht“, schreiben 19 Präsidenten von sozialistisch beherrschten Departements in einem Zeitungsbeitrag.
Eine Schlüsselfrage bleibt in der französischen Ökonomen-Debatte offen: Wird die rasant steigende Staatsverschuldung zu Inflation führen? Nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise der vergangenen Jahre war das nicht der Fall. Der Wirtschaftsberater Alain Minc fordert, einen Teil der immensen Staatsschulden in ewig laufende Schuldtitel umzuwandeln, die nie getilgt werden müssen. So könnten die Schuldner solvent bleiben. Inflationsängste rückt er in die Nähe von „Wahnvorstellungen“, denn Rohstoffe wie Öl blieben lange billig und in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit schössen keine Gehälter in die Höhe.
Auch der Ökonom Daniel, der sonst eigentlich vor Schulden abrät, verweist auf preisdrückende Faktoren wie den technischen Fortschritt und die Konkurrenz, zudem auf die Alterung der Bevölkerung, die wegen deren Konsumzurückhaltung den Geldumlauf bremst. „Das könnte bedeuten, dass die Wette auf eine Staatsverschuldung ohne Inflation aufgeht“, sagt Daniel.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2014, Jean Tirole, meint, dass niemand das Inflationsniveau voraussagen könne. Die „Monetisierung“ von Schulden sei nur dann gangbar, wenn die sozial Schwachen vor den steigenden Preisen geschützt werden und wenn eine Einigung im Euroraum hergestellt werden könne. Doch durch die Gefahr, dass einzelne Länder unbegrenzt Geld ausgeben und die Lasten dafür vergemeinschaften könnten, müsste der Stabilitätspakt neu erfunden werden. Das hält er für nicht sehr wahrscheinlich.
„Die Beispiele von Monetisierung öffentlicher Schulden durch Inflation betraf in der Vergangenheit nicht mehrere Länder mit einer Einheitswährung, mit einer gemeinsamen Zentralbank sowie mit unterschiedlichen Schuldenständen und einer sehr unterschiedlichen Toleranz von Inflation“, schrieb Tirole in „Les Echos“. Eine massive Stützung der Euroländer durch die Europäische Zentralbank erscheint ihm daher realistischer: „Diese kann schneller erfolgen, sie erfordert keine Einstimmigkeit, und vor allem ist sie weniger transparent für die Öffentlichkeit in den nordeuropäischen Ländern, die wie Deutschland weniger verschuldet sind und sich sorgen, dass sie Südeuropa finanzieren müssen“, meint der Nobelpreisträger.
In wie weit diese Debatte Frankreichs wichtigsten Entscheidungsträger – Emmanuel Macron – beeinflussen wird, ist derzeit offen. „Lassen Sie uns die ausgetretenen Wege verlassen, uns neu erfinden – ich als Erster“, hatte er bei seiner letzten Fernsehansprache am 13. April gesagt.