Der Mindestlohn hat keine Arbeitsplätze gekostet, heißt es. Jetzt soll er erhöht werden. Ist das wirklich so ungefährlich?
Deutschland befindet sich in der größten Rezession seit dem Krieg, und was macht der Mindestlohn? Er steigt. Das haben Arbeitgeber und Gewerkschaften in der vergangenen Woche beschlossen, und sie sind dabei vom eigentlich gedachten Prinzip abgewichen: Der Mindestlohn soll eigentlich so schnell steigen wie die übrigen Löhne in Deutschland. Nun geht es in den kommenden zwölf Monaten nicht so schnell nach oben. Danach aber zieht der Betrag plötzlich deutlich an – in zwei Jahren um fast zwölf Prozent, auf 10,45 Euro in der Stunde. Das Ziel ist politisch. Schon lange läuft die Kampagne dafür, dass der Mindestlohn kräftig angehoben werden soll, nämlich auf 12 Euro. Der Mindestlohn soll sozial aufgewertet werden, Arbeitsminister Hubertus Heil ist Teil der Bewegung: 12 Euro seien „eine gute Orientierung“, sagte er zuletzt.
Ob das eine gute Idee ist, wird seltener diskutiert. Ökonomen sind in dieser Debatte ein wenig in die Defensive geraten. Oft wird ihnen ein Zitat von Hans-Werner Sinn vorgehalten: Der Mindestlohn gefährde 900.000 Stellen, hatte der ehemalige Ifo-Präsident vor der Einführung gesagt. Dabei ging schnell unter, dass Sinn nicht die Arbeitslosenzahl vorhersagen wollte, sondern meinte, dass es ohne den Mindestlohn noch 900.000 Arbeitsplätze mehr geben könnte. 2015 jedenfalls wurde der Mindestlohn eingeführt, und Deutschlands Arbeitsmarkt sah danach immer noch gut aus. Dutzende von Studien belegten auf den unterschiedlichsten Wegen, dass die Einführung des Mindestlohns keine Arbeitsplätze gekostet habe. Eher seien Minijobs in ordentliche Stellen verwandelt worden.
Doch damit ist die Debatte nicht am Ende. Denn eine Erhöhung auf 12 Euro beträfe je nach Rechnung bis zu einem Drittel der Arbeitnehmer, da sollte man also noch mal genau hingucken: Wird es zu viel, wenn der Mindestlohn so hoch steigt? Gehen dann doch Arbeitsplätze verloren? Das könnte auf vielfältigen Wegen passieren: Vielleicht automatisiert der Arbeitgeber dann viele Aufgaben, weil der Arbeitnehmer zu teuer wird. Vielleicht tut er das nicht, aber erhöht seine Preise und verscherzt es sich dabei mit manchem Kunden. Kann das passieren, wenn der Mindestlohn so weit steigt?
Jobverluste durch den Mindestlohn sind schwer zu bemerken
Vielleicht sogar früher, wie eine ältere Studie der amerikanischen Ökonomen Jonathan Meer und Jeremy West argumentiert. Zu Beginn des Jahrzehnts versuchten die beiden, sich einen Reim auf die vielen unterschiedlichen Mindestlohn-Studien zu machen, die durch die Welt schwirrten. Sie kamen zu einem relativ simplen Fazit. Frei zusammengefasst kommen Mindestlöhne meist dann ins Spiel, wenn es dem Arbeitsmarkt gutgeht. In anderen Zeiten machen sich die Menschen vor allem Sorgen um Arbeitsplätze. Erst wenn die Angst vor der Arbeitslosigkeit klein ist, denken sie über ihre Entlohnung nach. Typischerweise sind das die Zeiten, in denen Mindestlöhne eingeführt oder erhöht werden. In so einem Aufschwung, wenn die Löhne sowieso steigen, schadet der Mindestlohn nicht so sehr. Aber er nimmt schleichend immer ein bisschen von der Dynamik am Arbeitsmarkt weg. Im nächsten Abschwung beißt er richtig zu. Aber dann haben viele schon vergessen, dass das am Mindestlohn liegt.
Meer und West haben ihre Studie geschrieben, wenige Monate bevor der allgemeine Mindestlohn in Deutschland kam. Sie liest sich wie das Drehbuch zur Entscheidung. Und was geschah dann? Zusammen mit ihrer Empfehlung zur Mindestlohn-Erhöhung hat die Mindestlohnkommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften einen neuen Bericht zu seinen Auswirkungen veröffentlicht. Und auch der weckt Erinnerungen an Jonathan Meer und Jeremy West.
Kostet der Mindestlohn seit Mitte 2018 Arbeitsplätze?
Um die Auswirkungen des Mindestlohns zu verstehen, teilt die deutsche Mindestlohnkommission die Arbeitsplätze in zwei Gruppen ein: in Branchen, die vom Mindestlohn stark betroffen sind und in Branchen, in denen der Mindestlohn kaum wirkt, weil die meisten Löhne sowieso höher sind. Wieder zeigt sich, dass direkt nach der Einführung Minijobs in ordentliche Arbeitsplätze umgewandelt wurden, und zwar vor allem in den betroffenen Branchen. Doch um Mitte 2018 drehte sich das Bild. Als es auf dem Arbeitsmarkt langsam schwieriger wurde, traf das besonders die Branchen mit dem Mindestlohn. Plötzlich wuchs die Stellenzahl deutlich langsamer als in den anderen Branchen – vor allem in Ostdeutschland, wo häufiger Mindestlohn gezahlt wird als im Westen.
Noch ist die Beobachtung statistisch wahrscheinlich nicht signifikant. Aber wer das Drehbuch kennt, bekommt leicht den Eindruck: Nun kostet der Mindestlohn Arbeitsplätze. In der Corona-Krise könnte der Mindestlohn-Schaden noch einmal größer werden. Und bei einer Erhöhung des Mindestlohnes sowieso.
Eine junge Mindestlohn-Studie aus dem Februar vermittelt eine Idee davon, wie das gehen kann. Sie zeigte: Nach der Einführung des Mindestlohns gab es zwar immer noch viele Arbeitsplätze, aber nicht unbedingt in den gleichen Unternehmen. Viele Mindestlohnempfänger wollten oder mussten die Stelle wechseln, und zwar in ein Unternehmen, das grundsätzlich mehr zahlt als ihr altes. Wenn es aber schlecht läuft, nehmen vielleicht auch diese Unternehmen weniger Arbeitnehmer auf.
Lieber kein Job als ein schlecht bezahlter?
Nun sagt so mancher Freund des Mindestlohns: lieber kein Job als ein schlechtbezahlter. Das aber entspricht nicht der Realität. Wer die Stelle verliert, wird mit seinem Leben viel unzufriedener. Der Schlag ist vergleichbar mit einer Scheidung oder einer schweren Krankheit. Zumal man sich jahrelang nicht mehr vollständig davon erholt.
Ob am Ende ein höherer Mindestlohn zu höherer Arbeitslosigkeit führt, ist unklar – selbst wenn Arbeitsplätze verschwinden. Die demographische Lage in Deutschland kann dazu führen, dass die Menschen schneller in Rente gehen als die Arbeitsplätze verschwinden. Doch ungefährlich ist die Mindestlohn-Erhöhung nicht. Und Deutschland kann jeden Arbeitsplatz brauchen: Irgendjemand muss ja die Beiträge auch zahlen, mit denen die Renten der nächsten Jahrzehnte zu finanzieren sind.
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