Diskriminierungen haben viele Ursachen. Deshalb ist ihnen so schwer beizukommen. Von Jürgen Kaube
Die Tatsachen scheinen klar, die Erklärungen weit weniger eindeutig: Es gibt Diskriminierung und Ungleichheit aufgrund ethnischer Herkunft und Hautfarbe. Doch worauf beruht sie? Zwei Aufsätze in der jüngsten Ausgabe des “Journal of Economic Perspectives” fassen den Stand der ökonomischen und soziologischen Forschung zusammen, die sich auf den prominentesten Fall von “racial discrimination” beziehen: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Ökonomisch lassen sich dabei zwei einfache Erklärungsmuster festhalten: Es gibt Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen, die man auch als persönliche Präferenz bezeichnen mag. Und es gibt Diskriminierung aufgrund von statistischen Schlüssen. Im ersten Fall zahlt beispielsweise ein Unternehmer, der Schwarze auch dann nicht einstellt, wenn sie leistungsfähiger sind, für seine Präferenz den entsprechenden Preis. Optimistische Modelle sagen den Vorurteilen in einer Konkurrenzwirtschaft darum keine große Zukunft voraus. Dafür umso mehr in Bereichen, in denen Konkurrenz inexistent ist, etwa der Polizei und der Gerichtsbarkeit.
Statistische Diskriminierung meint hingegen das bei Informationsunsicherheit praktizierte Schließen von Gruppenmerkmalen auf den Einzelfall.
Wenn bei Einstellungen beispielsweise das Vorstrafenregister nicht befragt werden darf, schließen viele Unternehmen von “junger schwarzer Mann ohne Ausbildung” auf ein Beschäftigungsrisiko, das gar nicht vorliegt, nur weil es einen statistischen Zusammenhang gibt, den sie womöglich noch übertreiben. Hautfarbe wird als Indikator für etwas genommen, das statistisch damit verbunden sein mag oder nicht; was mit ganz anderen Folgen auch für den Schluss von “weiß” auf “privilegiert” gilt. Leicht kommt es dann zu einer Selbstverstärkung der Diskriminierung ethnischer Minderheiten, die von den Ökonomen so beschrieben wird: Wenn Schwarze häufiger straffällig geworden sind, werden sie, weil Hautfarbe auf undurchschaute Weise in manchen Kontexten zum Symbol dafür geworden ist, weniger oft eingestellt und schlechter bezahlt, was für manche von ihnen illegale Aktivitäten der Art attraktiver macht, die sie leichter in die Gefängnisse bringt und so fort – Diskriminierung als System.
Neben Diskriminierung, die auf solchen individuellen Entscheidungen und statistischen Schlüssen beruht und deshalb auch schwer “wegzusteuern” ist, gibt es den “strukturellen Rassismus”. Nimmt man den Begriff ernst und meint damit nicht bloß, dass Rassismus überall vorkommt oder angeblich kulturell vermittelt wird – durch Straßennamen oder Bismarckstatuen! -, so bezeichnet er organisatorische oder gesetzliche Diskriminierung. Ein Beispiel ist der Arbeitsmarkt. Wenn frei werdende Stellen in Unternehmen typischerweise über Bekanntschaftsnetzwerke aufgefüllt werden – “Wir suchen gerade jemanden wie dich” -, dann wirkt sich die Tatsache aus, dass viele soziale Netzwerke eine Tendenz zur ethnischen Homogenität haben. Das beruht nicht zwingend auf Vorurteilen, sondern setzt nur entsprechende lokale Mehrheitsverhältnisse oder Homogenität in den Kontaktzonen (Schule, Universität, Freizeit) voraus, die sich in geringere Chancen für Angehörige von ethnischen Minderheiten übersetzen, zu einer Bewerbung aufgefordert zu werden.
Ein anderes Beispiel zeigt die Statistik der Entlassungsmuster. Sorgt das Arbeitsrecht dafür, dass Beschäftigte, die schon länger in einem Unternehmen sind, weniger leicht entlassen werden können, schlägt sich das nachweislich in einer Abnahme von Diversität nieder. Alter obsiegt insbesondere bei den besserbezahlten Jobs über Geschlecht und Herkunft, weil etwa weibliche Manager und solche minoritärer Herkunft erst in jüngerer Zeit aufgetreten sind.
Es ist also in vielen Fällen der statistische Zusammenhang ethnischer Merkmale mit anderen, der für anhaltende Ungleichheit sorgt. Das amerikanische Wahlrecht ist an sich farbenblind. Indem es in vielen Bundesstaaten Schwerverbrechern (und oft auch Straftätern auf Bewährung) das Stimmrecht entzieht, die Insassen der Gefängnisse aber mehrheitlich Schwarze sind, verstärkt eine neutral aussehende Praxis die unterschiedliche Behandlung von Merkmalsgruppen. Dass überdurchschnittlich viele Schwarze in Gefängnissen sitzen, beruht wiederum teils auf einer tatsächlich höheren Verbrechensrate, teils auf Vorurteilen, teils auf schlechteren Ressourcen der Verteidigung. Die Gesetze hatten historisch überdies durchaus den erklärten Sinn, die nach dem Bürgerkrieg Mitte des neunzehnten Jahrhunderts formell gleichgestellten Schwarzen gleichwohl von politischer Repräsentation abzuhalten. Das macht ihre Neutralität noch scheinheiliger.
Auch hier kommt es zu selbstverstärkenden Effekten von Diskriminierung. Werden bestimmte Gruppen vom Wahlrecht ausgeschlossen, sinkt die Wahrscheinlichkeit für eine Politik, die ihnen das Stimmrecht zurückgeben wird. Die Autoren verweisen hier auf eine Kontroverse darüber, was andere Wahlgesetze in Florida bedeutet hätten, als dort im Jahr 2000 Al Gore in den Präsidentschaftswahlen den Bundesstaat knapp verlor: 800 000 stimmrechtslose Gefangene und Exgefangene zählte Florida damals.
Die Hartnäckigkeit ethnischer Diskriminierung ergibt sich, so betrachtet, aus einer Mischung von individuellen Motiven, ökonomischen Entscheidungen, statistischen Korrelationen und institutionellen Benachteiligungen. Diese Komplexität sich selbst verstärkender Ungleichheit, die in den Vereinigten Staaten über einhundertfünfzig Jahre hinweg nicht gebrochen werden konnte, verdichtet sich bei manchen Beobachtern zum Eindruck eines fatalen, schicksalshaften und nicht aufzulösenden Prozesses.
Dazu tragen Ungleichheiten in Bereichen bei, in denen weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick zu sehen ist, welche sinnverstehende Erklärung die dortigen starken Schwarz-Weiß-Unterscheidungen deuten könnte. Hier sticht vor allem das Liebes- und Heiratsverhalten entlang von Hautfarben oder ethnischen Herkünften hervor, und zwar auf beiden Seiten der Unterscheidung. In europäischen Gesellschaften der Spätneuzeit war das Argument, die Liebe könne in Standesgrenzen, regionalen oder beruflichen Unterschieden keinen Sinn erkennen, von erheblichem Gewicht. Dass Familiengründung Rücksicht auf Hautfarben nehmen sollte, ist einer der stärksten Faktoren zugunsten von “ethnischen” Wir-Gruppen. Interessanterweise scheint gerade zu dieser Frage die Forschung noch in ihren Anfängen zu stecken.
Kevin Lang, Ariella Kahn-Lang Spitzer: “Race Discrimination: An Economic Perspective” und Mario Small, Devah Pager: “Sociological Perspectives on Racial Discrimination”, Journal of Economic Perspectives, Vol. 34 (2020). Beide Texte sind im Internet frei zugänglich.