Target 2 und kein Ende: Ein Ökonom aus Mailand empfiehlt, die deutsche Kritik an den Salden ernstzunehmen. Er plädiert für einen Saldenausgleich.
Die Arbeitsweise des Target-2-Zahlungssystems und die Bildung hoher Salden ist in den vergangenen Jahren vor allem von deutschen Ökonomen kritisiert worden. Besonders Hans-Werner Sinn hat sich intensiv mit dem Thema befasst. Allerdings stieß diese Kritik nicht nur in der EZB, sondern auch bei vielen Ökonomen im Ausland auf Unverständnis und gelegentlich sogar auf harte Ablehnung. In den vergangenen Jahren war das Thema ein wenig zur Ruhe gekommen, aber mit dem Anstieg der deutschen Targetforderungen auf gut 1000 Milliarden Euro ist es wieder auf der Tagesordnung angekommen.
Nun plädiert der italienische Ökonom Roberto Perotti (Bocconi Universität Mailand) in einer ausführlichen Untersuchung für ein größeres Verständnis der Kritik deutscher Ökonomen. „Ich vertrete die Auffassung, dass die deutsche Kritik an Target alles in allem nicht so unbegründet ist und sowohl aus theoretischen Gründen als auch mit Blick auf die politischen Folgen ernst genommen werden sollte“, schreibt Perotti. Der Ökonom ist ein Mann mit exzellenter Ausbildung, denn er studierte am renommierten Massachusetts Institute of Technology unter anderem bei Rudiger Dornbusch, Alberto Alesina und Olivier Blanchard. Dort schrieb er auch seine Doktorarbeit. In Italien beriet er unter anderem den früheren Premierminister Matteo Renzi.
Die unbefriedigende Entwicklung der Target-Debatte in den vergangenen Jahren erklärt er auch mit dem Verhalten der Kombattanten: Die deutschen Kritiker hätten sich gelegentlich nicht klar ausgedrückt, und ihre Gegner hätten gelegentlich einfach draufgeschlagen. Perotti befasst sich in seiner Arbeit nicht zuletzt mit einer Frage, für die keine juristische Regelung existiert, weil sie in den Verträgen nicht vorgesehen ist, und die man für weitgehend praxisfern halten kann: Was geschieht mit den Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB, wenn die Währungsunion auseinanderbricht? Dies führe – „im Unterschied zu Behauptungen mancher Kommentatoren“ – zu einem Schaden für den deutschen Steuerzahler. Dieser Schaden trete – „im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Haltung“ – unabhängig von der Ursache des Aufbaus der Targetsalden ein. Es spielt also keine Rolle, ob sie durch Kapitalflucht oder zur Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten entstanden seien.
Im Fall sehr hoher Wertberichtigungen auf ihre Target-Forderungen könne das Eigenkapital der Bundesbank negativ werden, schreibt Perotti. Immerhin betragen die Forderungen derzeit rund 1000 Milliarden Euro. Das hätte ein „Trilemma“ zur Folge: Die Regierung könne die Bundesbank sofort rekapitalisieren oder aber ihr im Laufe der Zeit kleinere Portionen Eigenkapital zukommen lassen. „Diese beiden Möglichkeiten gefährdeten die Unabhängigkeit der Zentralbank“, gibt Perotti zu bedenken. „Und die dritte Möglichkeit würde sie zu einer unerwünschten Geldpolitik zwingen.“ Diese dritte Möglichkeit wäre die Akzeptanz einer höheren Inflationsrate, die höhere Gewinne der Bundesbank zur Folge hätte.
Wer so argumentiert, braucht eine Antwort auf den Hinweis, dass aus geldpolitischer Sicht eine Zentralbank überhaupt kein Eigenkapital benötigt und beispielsweise in der Nachbarschaft der Bundesbank die Nationalbank Tschechiens mehr als zehn Jahre lang mit negativem Eigenkapital funktioniert hat. Das Argument beeindruckt Perotti allerdings nicht. “In der Praxis würden es Geldpolitiker und Regierungen einfach unvorstellbar finden, mit negativem Eigenkapital zu operieren”, schreibt er in einer Passage, die man in Zweifel ziehen könnte. Aber er hat noch ein anderes Argument parat: Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die EZB verlangten in einem solchen Falle die Rekapitalisierung der Deutschen Bundesbank.
Immerhin behandelt auch Perotti den nicht ganz offensichtlichen Charakter der Targetforderungen der Bundesbank: Ein privates Unternehmen müsste entsprechende Forderungen wohl mit einem Wert von Null bilanzieren, aber in der gesamtwirtschaftlichen Rechnung gehen sie mit ihrem Nennwert in die Ermittlung des deutschen Auslandsvermögens ein.
Die Frage bleibt, wie die Währungsunion wetterfester gestaltet werden kann. Perotti rät zunächst einmal, existierende Probleme anzuerkennen: „Sie weiterhin zu ignorieren, hieße, die politische Debatte zu belasten und zu vergiften. Das könnte die Integrität der Währungsunion gefährden, anstatt sie zu stärken, indem sich die Kritiker verschanzen und sich die politische Opposition gegenüber der Währungsunion radikalisiert.“ Diese Gefahr sieht der Ökonom gerade mit Blick auf Deutschland. „Eine größere deutsche Forderung aus Target verleiht den Schuldnerländern eine größere Verhandlungsmacht, weil mit der Höhe des Saldos die potentiellen deutschen Verluste zunehmen.“
Es ist jedoch nicht einfach, das System zu verbessern. Eine Übernahme des jährlichen Saldenausgleichs, wie ihn das amerikanische Federal Reserve System vornimmt, funktionierte nicht, weil das amerikanische Zentralbanksystem anders arbeitet als das europäische. Ein Saldenausgleich, den Perotti grundsätzlich für sinnvoll hält und für den den er in einem Gastbeitrag für das “Handelsblatt” plädiert, müsste anders organisiert werden. Kompliziert wäre das Projekt alleine, weil die Saldierung idealerweise mit Vermögensgütern stattfände, die im Falle eines Endes der Währungsunion ihren Wert behielten. Die Idee des früheren Bundesbankpräsidenten Helmut Schlesinger, die Salden nicht auszugleichen, aber Salden ab einer bestimmten, zu definierenden Höhe mit einer Art Strafzins zu versehen, scheint ganz in Vergessenheit geraten zu sein.