Es gibt verschiedene Gründe für die positive deutsche Leistungsbilanz. Und die deutsche Politik kann wenig daran ändern.
Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise gehen mit neuen, zum Teil sehr schwierig einzuschätzenden Herausforderungen einher. Daher treten vor der Krise engagiert ausgetragene Debatten gerade in den Hintergrund. Aber manche Debatte dürfte im Zuge der in Gang gekommenen Erholung wieder aufleben. Dazu zählen zweifellos die seit vielen Jahren beobachtbaren, im In- wie im Ausland kontrovers diskutierten hohen Überschüsse der deutschen Leistungsbilanz. In den vergangenen Wochen hat die Deutsche Bundesbank hierzu einen Beitrag in einem Monatsbericht sowie eine Studie zweier Ökonomen in ihrer Reihe wissenschaftlicher Diskussionsbeiträge veröffentlicht. Das ist Grund genug, einen Blick darauf zu werfen.
Debatten über den Leistungsbilanzüberschuss sind in Deutschland traditionell von einer bemerkenswerten Diskrepanz zwischen Erörterungen durch interessierte Laien, Politikern und manche Interessenvertretern (zum Beispiel aus Wirtschaftsverbänden) einerseits und Ökonomen andererseits gekennzeichnet. Die erste Gruppe erklärt den Überschuss vor allem mit einer hohen Wettbewerbsfähigkeit der Exportunternehmen; der Überschuss erscheint als Zeichen der Stärke der deutschen Wirtschaft. Diese Denkweise entstammt dem Zeitalter des Merkantilismus, der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ideeller Wegbegleiter des Frühkapitalismus war. Damals galt es als wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel, möglichst hohe Überschüsse im Außenhandel zu erzielen.
Die Geschichte ökonomischen Denkens endet allerdings nicht mit dem Merkantilismus. Mit der Leistungsbilanz ändert sich üblicherweise auch die Bilanz der internationalen Kapitalbewegungen: Ein Leistungsbilanzüberschuss geht gewöhnlich mit einem Kapitalbilanzdefizit einher. Konkret bedeutet dies, dass gleichzeitig mit einem Leistungsbilanzüberschuss ein Export heimischer Ersparnis beobachtet wird. Fachleute sprechen in dieser Situation von einem Nettokapitalexport. Ein Export heimischer Ersparnis findet statt, wenn für die Sparer in Deutschland nicht genügend attraktive Investitionsmöglichkeiten im Inland existieren – sei es in der privaten Wirtschaft oder beim Staat.
Das allerdings wäre kein Zeichen wirtschaftlicher Stärke. Kaum etwas ist Nichtökonomen in Deutschland schwieriger zu vermitteln als die für Ökonomen leicht nachvollziehbare Überlegung, dass der Leistungsbilanzüberschuss, auf den viele Menschen so stolz sind, wohl zumindest zum Teil die Folge von Sparentscheidungen ist, die auch Resultat einer Standortschwäche sein könnten. Ob der Leistungsbilanzüberschuss eher von der Güterseite oder von der Kapitalseite beeinflusst wird, steht nicht von vornherein fest.
Im Lichte dieser Überlegungen sind die Resultate neuer Untersuchungen interessant. „Simulationsergebnisse legen nahe, dass sich die Ersparnisbildung in Deutschland bis ins Jahr 2010 wegen der Arbeitsmarkt- und Steuerreformen der Agenda 2010, Bevölkerungsalterung und Rentenreformen deutlich erhöht hat“, schreiben die Ökonomen Kilian Ruppert und Nikolai Stähler in ihrem wissenschaftlichen Diskussionsbeitrag. „Da diese zusätzlichen Ersparnisse nicht vollständig im Inland investiert werden konnten, wurden Teile im Ausland angelegt. Der Leistungsbilanzüberschuss stieg.“ Hier wird die Rolle des Exports von Ersparnissen für den Saldo der Leistungsbilanz deutlich.
Seit dem Jahr 2010 hat die Ersparnisneigung der privaten Haushalte nicht zugenommen, wohl aber der Leistungsbilanzüberschuss. Eine andere Erklärung ist notwendig. Als wichtige Ursachen nennen Ruppert und Stähler „eine restriktive Fiskalpolitik in Deutschland (in Kombination mit einer vergleichsweise expansiven Politik im Rest der Welt), ein Rückgang der Investitionen im deutschen Unternehmenssektor und verbesserte ökonomische Bedingungen in Schwellenländern, die die dortige Nachfrage nach deutschen Gütern, aber auch dortige Anlagemöglichkeiten ausbaute.“ Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte taucht im Zusammenhang mit der wachsenden Nachfrage von Schwellenländern nach deutschen Produkten auf, aber sie ist nicht die einzige Erklärung. Für Deutschland sei jedenfalls nicht offensichtlich, dass politische Fehlentwicklungen verantwortlich für den hohen Überschuss sind, urteilt die Bundesbank in ihrem Monatsbericht. „Deshalb ist es auch nicht zielführend, gezielte Maßnahmen zur Verringerung des Saldos zu ergreifen.“
Die Bundesbank hat mit Modellen simuliert, wie oft vorgeschlagene Maßnahmen, zum Beispiel eine expansivere Finanzpolitik oder Deregulierungen in der Dienstleistungsbranche, auf die Leistungsbilanz wirkten. In beiden Fällen reduzierte sich der Überschuss, aber der Effekt blieb gering. Die verbreitete Kritik, die Bundesregierung gehe nicht energisch gegen den Leistungsbilanzüberschuss vor, erweist sich als unbegründet.
Das heißt nun allerdings nicht, dass Deregulierungen in der Dienstleistungsbranche eine schlechte Idee wären, nur weil sie wenig auf die Leistungsbilanz wirkten. Sie dürften aus anderen Gründen sinnvoll sein.
Viel wichtiger für den deutschen Leistungsbilanzsaldo wären andere Entwicklungen. „So dämpfen eine Aufwertung des Euros oder ein Wachstumseinbruch in China den deutschen Leistungsbilanzsaldo spürbar“, schreibt die Bundesbank. „Angesichts dessen dürften für eine merkliche Rückführung des Überschusses rein nationale Maßnahmen in plausiblen Größenordnungen nicht ausreichen.“ Eine substantielle Verringerung des Überschusses setze auch Änderungen im internationalen Umfeld voraus.
In den vergangenen Jahren erreichte der deutsche Leistungsbilanzüberschuss in der Spitze rund 9 Prozent der Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr. Für 2020 erwartet die Bundesbank als Ergebnis der Covid-Rezession einen Rückgang auf rund 5 Prozent der Wirtschaftsleistung, aber schon im kommenden Jahr dürfte der Leistungsbilanzüberschuss aber wieder zulegen. Unabhängig von den konkreten Zahlen wäre eine gelassenere Erörterung dieses Phänomens hilfreich. Weder sind im internationalen Vergleich hohe Leistungsbilanzüberschüsse geeignet für Ausbrüche nationalen Stolzes, noch eignen sie sich für grobschlächtige Schuldzuweisungen an die deutsche Politik.