Vor dem Morgengrauen mit dem Rollkoffer zum Flughafen hetzen, um für ein Meeting von Frankfurt nach Berlin zu fliegen, und direkt im Anschluss wieder zurück. Zwischendurch im Taxi sitzen, an der Sicherheitskontrolle anstehen, Zeit in der Lounge vertreiben, am Gate warten, im Flugzeug auch. So sah der Joballtag für Millionen Menschen auf der Welt bis vor kurzem aus. Allein die Deutschen unternahmen zuletzt rund 190 Millionen Dienstreisen im Jahr. Dann aber kam die Pandemie – und mit ihr die Frage, ob das wirklich nötig ist.
In vielen Unternehmen heißt die Antwort gerade: Ist es nicht. Auch über Zoom, Skype oder Microsoft Teams lässt sich eine Menge besprechen, hat man schnell gelernt. Neun von zehn Unternehmen geben in Umfragen zu Protokoll, das viele Reisen nun grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Das ist günstiger, spart Zeit – und der Umwelt hilft es auch. Der persönliche Austausch ist austauschbar geworden.
Es ist nicht so lange her, da ließen sich die Unternehmen das berufliche Reisen rund 1,5 Billionen Dollar jährlich kosten, gemessen an der globalen Wirtschaftsleistung entsprach das einem Anteil von 1,7 Prozent. Jahrelang wuchsen die Ausgaben deutlich schneller als die Weltwirtschaft insgesamt, obwohl es all die technologischen Hilfsmittel, die das Kommunizieren und Konferieren aus der Distanz möglich machen, nicht erst seit Corona gibt. Trotzdem haben Unternehmen ihre Mitarbeiter persönlich rund um den Globus geschickt. Schaffen Dienstreisen also vielleicht doch einen Mehrwert, den es nach der Pandemie zu bewahren gilt?
Ein Forscherteam um den Harvard-Ökonomen Ricardo Hausmann hat zu dieser Frage gerade eine bemerkenswerte Arbeit veröffentlicht. Ihr Fazit könnte kaum deutlicher sein: Dauerhaft auf Dienstreisen zu verzichten wäre, rein wirtschaftlich gesehen, fatal. Der Grund: Wenn Mitarbeiter geschäftlich verreisen, bringen sie ihr Knowhow mit – und geben es an andere weiter. Das steigert erst die Produktivität der Wirtschaft und schafft dann neue Arbeitsplätze und zusätzlichen Output. Fielen Dienstreisen nun dauerhaft weg, würde bis zu 17 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung verlorengehen.
Als Hausmann und seine Kollegen sich an die Arbeit machten, ahnten sie nicht, wie sehr sie dem Zeitgeist voraus waren. Als Wachstumsforscher interessierte sie die Frage, auf welchen Kanälen sich Wissen und Technologien verbreiten lässt, um auch an anderen Orten für Wachstum zu sorgen. Dienstreisen, argumentieren sie, käme dabei eine entscheidende Rolle zu. Ihre Arbeit basiert auf der Annahme, dass es drei verschiedene Formen von Wissen gibt: Manches Wissen sei gebunden, in Gestalt von Werkzeugen, Instrumenten oder Maschinen. Das Wissen der zweiten Kategorie, das “kodierte” Wissen, stecke in Rezepten, Formeln, Handbüchern oder Algorithmen. Die dritte Form sei das Knowhow, also Wissen, das in unseren Köpfen steckt.
Während die ersten beiden Wissenstypen leicht weiterzureichen seien, bewege sich das Knowhow nur sehr langsam von einem Kopf zum nächsten. An diesem Punkt setzen Hausmann und seine Kollegen ihr Plädoyer für Dienstreisen an. Sie argumentieren: Am besten lasse sich Knowhow von A nach B übertragen, indem man Menschen mit entsprechenden Knowhow an den Zielort schickt. Das gehe zum einen über Migration, also über dauerhaftes Umsiedeln kluger Köpfe. Und zum anderen über Dienstreisen, bei denen das Knowhow nur temporär an einem anderen Ort zum Einsatz kommt.
Um Genaueres über die Bedeutung von Dienstreisen sagen zu können, gab es aber zunächst ein Hindernis aus dem Weg zu räumen; das Problem mit den Daten: Keine Statistikbehörde der Welt kann sagen, wohin und wie häufig Menschen beruflich reisen. Man könnte in den Unternehmen fragen, aber abgesehen davon, dass dies ein immenser Aufwand wäre: Würden die Firmen die Informationen überhaupt teilen? Hausmann und sein Team hatten eine Idee. Wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter auf Dienstreise schicken, statten sie diese in der Regel mit einer Kreditkarte aus. Die Dienstreisenden hinterlassen also Spuren, sobald sie irgendwo einen Kaffee, ein Geschäftsessen oder eine Hotelrechnung bezahlen. Ein großer internationaler Zahlungsmittelkonzern half aus und stellte seine Daten zur Verfügung – zur Wahrung des Datenschutzes in anonymisierter und aggregierter Form.
Was die Ökonomen in den Daten sahen, war Folgendes: Am häufigsten gingen Dienstreisen an Orte, an denen die Arbeitgeber Dependancen unterhielten. Dabei kurbelten sie die Wirtschaft am Zielort sichtbar an: Reisten deutsche Mitarbeiter eines Automobilkonzerns zum Beispiel verstärkt nach Mexiko, wurde die mexikanische Autoindustrie im Anschluss produktiver. Sie schuf zusätzliche Arbeitsplätze und steigerte ihren Export. Der Effekt war auch drei Jahre später zu sehen. Und wie die Forscher zeigen konnten, war der Zusammenhang kausal: Mehr Dienstreisen sorgten für eine stärkere Wirtschaft – und nicht umgekehrt.
Um sich ein umfassendes Bild vom Wert der Dienstreisen zu machen, sortierten Hausmann und seine Kollegen die Länder nach den größten Knowhow-Entsendern und Knowhow-Profiteuren. In der ersten Liste landete Deutschland auf dem ersten Rang, gefolgt von Kanada, die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Südkorea, Frankreich und Japan. China erreichte den 17. Platz. Die größten Profiteure waren Irland, die Schweiz, Dänemark, Belgien und Singapur. Man beachte: Auf den ersten 25 Rängen landeten vor allem Industrienationen, die in unmittelbarer geographischer Nähe zu den großen Dienstreise-Nationen liegen.
Viele Menschen haben nun das Gefühl, sie könnten ähnlich produktiv sein, wenn sie von zu Hause aus arbeiteten und über Zoom kommunizierten. Hausmann selbst nimmt sich da nicht aus, wie er in einem Beitrag auf “Project Syndicate” schreibt. Allerdings hält er diesen Eindruck für eine “kurzfristige Illusion”. “Unsere Forschung impliziert, dass die Welt einen hohen Preis zahlen wird für den Shutdown der Dienstreisen. Zeigen wird sich das in geringerem Produktivitätswachstum, geringerer Beschäftigung und geringerem Output”, sagt er. Sicher habe die Pandemie auch gezeigt, dass nicht jede Dienstreise notwendig gewesen sei und sich vieles mit dem Einsatz moderner Technologien anders lösen lasse. Aber Menschen mit Knowhow müssten weiterhin reisen, um ihr Wissen zu teilen. Ein dauerhafter Verzicht würde die Folgen der Pandemie nur noch verschlimmern.