Pandemischer Protektionismus herrscht, wenn jedes Land seine Gesichtsmasken selbst herstellen will. Tatsächlich aber lehrt die Coronakrise die Vorteile des freien Handels.
Dreimal wurde das Welthandelssystem in diesem Jahrhundert bislang auf die Probe gestellt – während der großen Finanzkrise, durch den amerikanischen Präsidenten Donald Trump und während der Pandemie, die den Namen Corona trägt. Die größte Gefahr entsprang dabei weder den Börsen noch Trump.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst 2008 versprachen die Staats- und Regierungschefs der G-20-Staaten, auf protektionistische Hemmnisse zum Schutze der eigenen Wirtschaft zu verzichten. Das war nicht selbstverständlich. In der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte der protektionistische Reflex noch zu Abwertungswettläufen geführt und das Welthandelssystem zerstört. Auch in der Finanzkrise hielt das freihändlerische Versprechen nur bedingt. Schon ein halbes Jahr später hatten fast alle der zwanzig großen Industrie- und Schwellenländer protektionistische Maßnahmen beschlossen. Im Nachhinein betrachtet, überlebte das freiheitliche Welthandelssystem die Verwerfungen dennoch recht gut.
Der Protektionist kappt seine eigene Versorgung
Trump verabschiedete zum Amtsantritt 2016 umgehend die Vereinigten Staaten aus dem fertig ausgehandelten transpazifischen Freihandelsbündnis TPP. Ausgerechnet das Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg als Hüter einer liberalen Welthandelsordnung gedient hatte, führte einen Schlag gegen das multilaterale Handelssystem. Das Risiko Trump aber war vorübergehend. Es bestand immer die Möglichkeit, dass Amerika nach Trump auf den multilateralen Freihandelspfad zurückkehren könnte. Die elf Partnerländer des TPP-Bündnisses hielten die Tür für Amerika ausdrücklich offen.
Weit bedrohlicher für den Welthandel ist das Coronavirus. Die Reaktion darauf war dreifach protektionistisch. Eilig blockten viele Regierungen den Export von Schutzmasken und medizinischer Schutzkleidung, um Engpässe im eigenen Land zu lindern. Doch weil andere Länder üblicherweise dem schlechten Vorbild folgen, konnte dringend benötigte Schutzkleidung danach auch nur noch erschwert eingeführt werden. Der Protektionist kappt so seine eigene Versorgung.
Es folgte das Murren in vielen Ländern, dass man sich nicht selbst mit Masken oder Schutzkleidung versorgen könne und diese weitgehend einführen müsse. Das Argument ist eine Spielart der Kritik, dass die globalisierte Arbeitsteilung zu weit gegangen sei und Abhängigkeiten schaffe. Doch der Gedanke führt in die Irre. Die in der Pandemie schlagartig steigende Nachfrage nach Masken und Schutzkleidung überforderte kurzfristig die globale Produktion. Erst recht hätte sie eine heimische Produktion überfordert. Wer vorübergehende Engpässe für die wichtigsten medizinischen Güter verhindern will, muss Vorräte halten, die den Bedarf zeitweise stillen können. Die Politik hat sich für den Seuchenschutz zuständig erklärt. Doch auf den Ernstfall einer Pandemie war sie in Deutschland schlecht vorbereitet. Ökonomen sprechen in solchen Fällen von Staatsversagen, nicht von Marktversagen.
Freihandel sichert Souveränität
Das dritte in der Corona-Krise vorgebrachte Argument gegen die internationale wirtschaftliche Verflechtung betont die Schwierigkeiten der Industrie, Vorprodukte aus dem Ausland zu beziehen. Lieferketten waren unterbrochen, die heimische Produktion stockte. Das war Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon seit langem meinen, Deutschland industriepolitisch ertüchtigen und Produktion aus China zurückholen zu müssen. Auch das ist Protektionismus, weil nicht mehr weitsichtige Unternehmer, sondern Politiker mit Geboten und Steuergeld über Standorte entscheiden. Doch der zeitweise Riss der Lieferketten war das geringste Problem in der Pandemie und wurde nahezu irrelevant, als Fabriken zum Seuchenschutz oder mangels Nachfrage ohnehin schließen mussten.
Den drei Varianten des pandemischen Protektionismus ist gemein, dass sie offen oder verdeckt auf mehr Selbstversorgung setzen, um von der Einfuhr weniger abhängig zu sein. In Europa wird das sprachlich überhöht unter dem Schlagwort „Souveränität wiedergewinnen“ diskutiert. Doch das Argument ist so sinnvoll wie die Empfehlung an den Industriearbeiter, neben der Arbeit sein eigenes Feld zu bewirtschaften, Nutztiere zu halten und zu schlachten, um Kartoffeln, Getreide, Obst und Fleisch für den Eigenverbrauch nicht mehr kaufen zu müssen. Wohlstand lebt und entsteht durch die Spezialisierung, die den freien Handel und Austausch zwischen Arbeitern, Bauern, Bäckern und Fleischern voraussetzt. Das gilt auch im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland.
Wer möchte schon zu deutschen Löhnen hergestellte und teure Schutzmasken kaufen, wenn er preiswertere aus dem Ausland, und sei es aus China, beziehen kann? Wer möchte auf ausländische Zulieferer verzichten, wenn deutsche oder europäische Zulieferer pandemiebedingt schließen müssen? Wer möchte gar auf ausländische Impfstoffe gegen Covid-19 verzichten? Trotz aller politischen Aufgeregtheiten um die angebliche Schädlichkeit des Freihandels in der Krise demonstriert gerade die Pandemie, dass international offene Märkte immer noch die beste Versorgungssicherheit bieten.
Asien bewegt die Welt
2020 war deshalb ein gutes Jahr für den Freihandel – aber nicht nur deswegen. Seit diesem Jahr gelten kleinere Freihandelsverträge zwischen Australien und Hongkong, Australien und Peru, zwischen der Europäischen Union und Vietnam sowie den Salomonen. Im Juli trat das unter Trump neu verhandelte Freihandelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko in Kraft. Und im November entstand in Asien die größte Freihandelszone der Welt mit den Schwergewichten China und Japan, mit Korea, Australien und Neuseeland und den zehn Asean-Staaten von Vietnam bis Indonesien, von Malaysia bis zu den Philippinen.
Die Einigung dieser Staaten entspricht nicht den hohen Standards, die die EU an ihre Abkommen anlegt. Die Europäer nutzen oder missbrauchen ihre Handelsverträge, um global für Umweltschutz oder Menschenrechte einzutreten. Pragmatisch aber haben die Länder des asiatischen Pakts das direkte Interesse ihrer Bürger im Sinn, indem sie Handelshürden senken.
Geopolitisch wird der Pakt einiges bewegen. Die Übereinkunft erleichtert den schwierigen Weg zu einem vertieften Freihandelsabkommen zwischen China, Japan und Korea. China zeigt jetzt Interesse am bisher westlich dominierten transpazifischen Freihandelspakt TPP. Das könnte den gewählten amerikanischen Präsidenten Joe Biden motivieren, Amerika in dieses Abkommen, das noch sein früherer Boss Barack Obama ausgehandelt hatte, wieder hineinzuführen. Auch die EU dürfte noch mehr Interesse am Handel mit Asien zeigen. Die Asiaten zeigen der Welt, dass Pandemie und Freihandel kein Gegensatz sind – und öffnen den Weg für noch mehr Freihandel in den kommenden Jahren.