Der Hochadel neigte über viele Jahrhunderte zur Inzucht. Daraus können Forscher heute einiges lernen. Von Winand von Petersdorff
Eine der großen Fragen der Sozialwissenschaften lautet, ob und inwieweit nationale Anführer das Schicksal ihrer Länder bestimmen. Die Geschichte der Welt entspricht weitgehend den Biographien großer Männer, lautet eine These, die im 19. Jahrhundert Verbreitung fand und im starken Kontrast stand zur marxistisch geprägten Deutung, dass ökonomische Kräfte das Geschehen bestimmen. In der extremen Spielart dieser Interpretation sind die politischen Anführer Sklaven der Geschichte.
Forscher haben sich der Frage angenommen – mit gemischten Erfolgen: Psychologen entdeckten positive Zusammenhänge zwischen dem Intelligenzquotienten amerikanischer Präsidenten und dem Erfolg des Landes während ihrer Regierungszeit. Politologen betonen in populärwissenschaftlichen Werken die Rolle von Führungspersönlichkeiten.
Ökonomen haben herausgefunden, dass plötzliche Machtwechsel als Folge unerwarteter Todesfälle vor allem gut ausgebildeter politischer Führer nach dem Zweiten Weltkrieg Einfluss auf die wirtschaftliche Leistung einiger Länder hatte. Das Wirtschaftswachstum schrumpfte etwas. Doch die Untersuchungen bezogen sich nur auf schmale Zeiträume und auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wirtschaftswachstum hat zudem wegen seiner hohen Volatilität und anderer Bestimmungsfaktoren wenig Deutungskraft, wenn man nicht längere Zeiträume in Betracht nimmt. Dazu gesellt sich das Endogenitäts-Problem: Die Wahl der Nachfolger plötzlich verstorbener Regierungschefs könnten von den wirtschaftlichen und sozialen Umständen bestimmt sein.
Im idealen Experiment würden zufällig ausgewählte Führer mit unterschiedlichen Fähigkeiten über einen längeren Zeitraum analysiert.
Der idealtypischen Konstellation ziemlich nahe kommen Daten über Europas Monarchen, die von den Ökonomen Sebastian Ottinger und Nico Voigtländer zusammengefügt und ausgewertet wurden. Sie untersuchten 333 Monarchen aus mehr als 30 Dynastien in 13 Ländern im Zeitraum zwischen 990 und 1800.
Um das Problem der Endogenität zu umschiffen, nutzten sie ein Phänomen aus, das unter europäischen Hochadels-Geschlechtern gang und gäbe war: Ihre Mitglieder heirateten munter untereinander mit durchaus betrüblichem Resultat. Die praktizierte Inzucht bescherte der Menschheit gelegentlich grenzdebile Persönlichkeiten auf dem Thron. Die zweite Eigenart des Hochadels war die Erbfolgeregel. Die Fähigkeit des Kandidaten spielte keine Rolle. Präziser: Leistungsfähigkeit wurde unterstellt. In Unkenntnis der Folgen von Inzucht ging man damals sogar davon aus, das die Hochadels-Geschlechter besseres “Blut” hatten als ihre Untertanen, das durch Heiraten untereinander nur noch besser werden konnte. Den Thron bekam in der Regel der älteste überlebende Sohn des Regenten.
Der Grad der Inzucht europäischer Regenten ist messbar dank überlieferter Stammbäume. Er hat, wie die Forscher dokumentieren, zugleich starke Prognosekraft für die Fähigkeiten der Regenten als Staatsführer. Genetisch degenerierte Regenten erwiesen sich als Versager. Die Ökonomen illustrieren ihre Untersuchung, indem sie zwei spanische Herrscher vergleichen, die beiden Carlos beziehungsweise Karl hießen. Der eine war Carlos II., beklagenswerter Spross von Generationen von Verwandten-Ehen. Seine Eltern waren nicht nur zugleich Onkel und Nichte, sie waren sich durch Verwandtenehen ihrer Vorfahren genetisch so nahe wie Geschwister. Forscher bezeichnen ihn als “körperlich behindert, geistig zurückgeblieben und verunstaltet”. Er hatte zudem die klassische “Habsburger Unterlippe” als Ergebnis eines überdimensionierten Unterkiefers, der ihre Träger beim Aufnehmen fester Nahrung behinderte. Carlos II. starb früh, seine Regentschaft gilt als außergewöhnlich dürftig. Mit ihm endete das spanische Habsburgergeschlecht. Denn impotent war er vermutlich auch. Rund hundert Jahre später erlangte der Bourbone Carlos III. den Thron. Unter seiner Herrschaft florierte Spanien. Er hatte einen bedeutenden Startvorteil gegenüber seinem Namensvetter: Seine Eltern waren nur Verwandte 3. Grades. Die Inzucht blieb klein.
Nun ist noch nicht klar, wie man eigentlich die Fähigkeit eine Führers und den Erfolg seines Landes während seiner Regentschaft feststellen will. Hier treten die mehr als hundert Jahre alten Arbeiten des MIT-Biologen Fredrick Arthur Woods auf den Plan. Er hatte sich ans Werk gemacht, die Qualität europäischer Monarchen zu ergründen und die Beurteilung zu systematisieren. Woods destillierte seine Beurteilungen über Hunderte europäischer Regenten aus Schriften von Historikern und Zeitgenossen, die er systematisch auswertete. Eine wichtige Rolle für die Benotung spielten Adjektive, mit denen die Herrscher in den Schriften beschrieben wurden.
Das Ergebnis ist ein Drei-Klassen-System mit fähigen, unfähigen und mittelmäßigen Gestalten. Ein vergleichbares Drei-Klassen-System, geordnet nach zahlreichen Kriterien, bildete er auch für die Länder, die von den Monarchen beherrscht wurden. Voigtländer und Ottinger verifizierten und aktualisierten Woods Systeme und fügten als Zusatzkriterium noch die Frage hinzu, ob das Land unter der Regentschaft des betrachteten Herrschers Gebietsverluste hinnehmen musste. Die österreichische Herrscherin Maria Theresia büßte während ihrer Regentschaft beispielsweise Schlesien ein, konnte aber andere Gebiete hinzugewinnen. Sie wurde als einigermaßen fähige Regentin gewertet.
Die Ergebnisse der Untersuchung, die sich auf den Zeitraum zwischen dem 10. und 18. Jahrhundert bezieht, sind ziemlich eindeutig. Sie belegen, dass fähige Regenten gut für ihre Länder waren. Das untermauert die Ausgangsthese, dass Führer generell die Geschichte prägten, zumindest bis zum Entstehen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Allerdings identifizieren die Ökonomen Einschränkungen: England und einige nordeuropäische Länder entwickelten Strategien, sich gegen die Folgen leistungsschwacher Regenten abzuschirmen. Dort war der Zusammenhang zwischen der Fähigkeit der Monarchen und der Leistungsfähigkeit der von ihnen regierten Länder schwach oder nicht erkennbar. Die Erklärung: In England beispielsweise beschränkte das Parlament die Macht der Monarchen. Deren Debilität hatte nicht so tiefgreifende Folgen für das Schicksal des Landes.
Sebastian Ottinger and Nico Voigtländer: History’s Masters: The effect of European Monarchs on State Performance. Working Paper, 2021