50 Langzeitobdachlose bekommen drei Jahre lang immense Unterstützung. Forscher haben beobachtet, was das langfristig bringt.
Eine ganz normale Januarnacht in Frankfurt: Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zählen die Mitarbeiter des “Kältebusses” 178 Obdachlose, die die Nacht im Freien verbringen. In der B-Ebene in der U-Bahn-Station am Eschenheimer Tor und anderen Notunterkünften übernachten rund 350 Menschen, die sonst kein Dach über dem Kopf hätten. Am nächsten Morgen geht es für sie wieder raus in die Kälte, wo sie wegen des Corona-Lockdowns noch weniger Möglichkeiten haben, ein paar Euro zu erbetteln oder Obdachlosenzeitungen zu verkaufen.
In Deutschland lebt zusammengerechnet eine ganze Kleinstadt auf der Straße. 40.000 Menschen seien es, wenn man alle Betroffenen eines Jahres aufsummiert, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. 200.000 Menschen zusätzlich leben hierzulande demnach in Gemeinschaftsunterkünften, notdürftig bei Bekannten oder in anderen Einrichtungen. Die vielen Flüchtlinge ohne eigene Wohnung sind da noch nicht mitgezählt. In der Europäischen Union, schätzen Forscher, ist die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen zehn Jahren um zehn Prozent gestiegen. Für den Staat ist das teuer. Hilfsangebote, Gesundheitsleistungen und Polizeieinsätze kosten viele Millionen Euro. Die Betroffenen, die häufig unter psychischen oder körperlichen Krankheiten leiden, drogen- oder alkoholabhängig sind und den Anschluss an das normale Sozialleben verloren haben, zahlen einen noch viel höheren Preis. Wie groß ihr Leid ist, zeigt eine Zahl aus Hamburg. Dort wurden 207 verstorbene wohnungslose Menschen obduziert: Fast jeder zehnte hatte Selbstmord begangen.
“Housing first”: Zuerst gibt’s eine Wohnung
Die Frage, wie den Betroffenen wirkungsvoll und dauerhaft geholfen werden kann, drängt. Ein Patentrezept gibt es nicht. In den vergangenen Jahren hat allerdings ein neuer Ansatz zuerst in den Vereinigten Staaten und dann auch in Europa Hoffnungen geweckt: Housing first.
Dahinter verbirgt sich die Idee, dass Obdachlose schnell und ohne große Vorbedingungen mit einer eigenen Wohnung versorgt werden. Eine lange Bewährungszeit, in der sie beweisen müssen, dass sie die Finger von Alkohol und Drogen lassen und einen geregelten Tagesablauf hinbekommen, entfällt. In der eigenen Wohnung werden die Betroffenen dann von Sozialarbeitern darin unterstützt, den neuen Alltag zu bewältigen. In Finnland soll die Zahl der Langzeit-Obdachlosen dank Housing first stark gesunken sein, auch in Deutschland laufen mehrere Pilotprojekte. Sie werden allerdings dadurch erschwert werden, dass in den Großstädten kaum noch freie, bezahlbare Wohnungen zur Verfügung stehen.
Was geschieht langfristig?
Viele der Pilotprojekte werden von Wissenschaftlern begleitet. Sie zeigen, dass es in vielen Fällen tatsächlich gelingt, Menschen von der Straße zu holen, die schon lange nicht mehr in den eigenen vier Wänden gelebt haben. Allerdings kranken viele der Studien daran, dass sie vor allem kurzfristige Auswirkungen erfassen, also wenig darüber aussagen, was passiert, wenn die Programme enden. Eine neue Arbeit des deutschen Ökonomen Daniel Kühnle (Universität Duisburg-Essen) und seiner Ko-Autoren Yi-Ping Tseng und Guy Johnson, die beide in Australien forschen, bringt mehr Licht ins Dunkel – und kommt zu ziemlich ernüchternden Ergebnissen.
Die drei Wissenschaftler haben ein vielversprechendes Housing-first-Projekt in Melbourne unter die Lupe genommen. Langzeitobdachlose bekamen dort intensive Unterstützung: Sozialarbeiter begleiteten sie sehr eng über drei Jahre hinweg, arbeiteten mit ihnen an Sucht- und psychischen Problemen und halfen ihnen bei der Jobsuche. Die Obdachlosen rückten auf den Wartelisten für Wohnungen zudem ganz nach oben.
Was den Forschern, die ihre Studie kürzlich auf der Jahrestagung der “American Economic Association” präsentiert haben, in die Karten spielte: Die ehemals Obdachlosen wurden auch noch drei Jahre nach dem Ende des Programms befragt. Die Ökonomen konnten also über insgesamt sechs Jahre verfolgen, wie es den knapp 50 Programmteilnehmern im Vergleich zu einer ähnlich großen Kontrollgruppe ergangen ist, die nur die gewöhnlichen staatlichen Hilfen bekommen hatte.
Die ersten Ergebnisse sprechen für das aufwendige Hilfsprogramm. Der Anteil der Langzeit-Obdachlosen, die in einer eigenen Wohnung lebten, schoss unter den Teilnehmern auf rund 80 Prozent nach oben. Am Ende des Programms nach drei Jahren lag die Quote damit etwa 37 Prozentpunkte höher als in der Kontrollgruppe. Noch mal drei Jahre später war der Vorsprung allerdings verschwunden. Housing-first-Teilnehmer landeten zum Teil wieder auf der Straße, andere Obdachlose fanden eine eigene Wohnung, so dass aus beiden Gruppen etwa zwei Drittel der Menschen ein festes Dach über dem Kopf hatten.
Was nicht wächst: die Beschäftigung
In anderen wichtigen Bereichen jenseits der Wohnsituation ließen sich trotz des immensen Aufwands erstaunlicherweise nicht einmal kurzfristig Unterschiede zur Kontrollgruppe messen. Die Programmteilnehmer zeigten zwar eine etwas höhere Motivation zum Arbeiten, am Ende der drei Jahre hatten sie das aber trotz Berufstraining nicht in mehr Beschäftigung umgemünzt. Depressionen, Angstzustände und psychischer Stress nahmen nicht stärker ab als bei den anderen Obdachlosen. Auch der Drogen- und Alkoholkonsum wurde trotz der Hilfe der Sozialarbeiter nicht überdurchschnittlich weniger. In sozialer Hinsicht stießen die Forscher sogar auf leicht negative Effekte, was sie damit begründen, dass die Teilnehmer möglicherweise alte Bekanntschaften verloren haben, aber kein neues Netzwerk geknüpft haben. Zu schlechter Letzt fanden die Forscher auch keine Hinweise, dass die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Teilnehmer stärker sanken als in der Kontrollgruppe.
Woran liegt es, dass selbst eine solche intensive Hilfe nur zu kurzfristigen, auf die Wohnsituation beschränkte Erfolge führt? “Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Programmteilnehmer für viele Jahre am Rand der Gesellschaft gelebt haben”, bilanzieren die Forscher. Die Folgen der langen sozialen Isolation und der körperlichen und psychischen Probleme seien schwieriger zu überwinden, als es Politiker oft annehmen. Die Forscher weisen zwar selbst darauf hin, dass sie nur eine kleine Gruppe von Menschen untersuchen konnten, es braucht also viel mehr solcher Studien, um die Ergebnisse zu bestätigen. Ein Patentrezept scheint aber leider auch Housing first nicht zu sein.