Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wenn Noah und Michael das Gleiche tun

Antisemitismus ist in Deutschland weit verbreitet. Das trägt auch zur Ablehnung von Aktien bei.
Von Jürgen Kaube

Das Experiment ist ganz einfach. Zunächst wird ein Investitionsverhalten beschrieben: Eine Person legt Geld, das ihr mit dem Zweck vererbt worden ist, das Studium ihrer Kinder zu finanzieren, in einem Portfolio von Aktien an. Nun wird die Frage gestellt, ob das moralisch verwerflich ist. Antworten können auf einer Skala von “sehr verwerflich” über “verwerflich” und “nicht zu beantworten” bis “nicht verwerflich” und “überhaupt nicht verwerflich” gegeben werden.
 
Der Ansatzpunkt für eine kritische Bewertung mag dabei in der Vorstellung liegen, das Geld der Erbtante hätte zur Seite gelegt werden müssen und vor allem nicht in eine Spekulation eingebracht. Denn so bestimmen Marktbewegungen, was für das Studium verwendet werden kann. Die Einseitigkeit einer solchen kritischen Bewertung könnte wiederum darin liegen, weder den Geldwertverlust zu berücksichtigen noch die Durchschnittsrendite am Aktienmarkt. Man könnte auch sagen: Spekulativ ist jede Geldverwendung, man sieht es mancher nur nicht sofort an.
 
Die Pointe der kleinen Studie von Raphael Max und Matthias Uhl, deren Ergebnisse gerade im Journal of Behavioral and Experimental Finance publiziert worden sind, liegt nun in den Namen, die dem Investor gegeben wurden. Hießen die Namen in der Geschichte nämlich Noah Blumenberg, Adam Scherbaum oder Benjamin Oppenheimer, so wurden von den Testpersonen, die das Investment beurteilen sollten, schlechtere moralische Zensuren verteilt, als wenn ein Peter Schmidt oder Michael Schneider mit dem Geld der Erbtante an die Börse gingen.
 
Die Abstände waren deutlich: Verwerflich oder sehr verwerflich fand das Investment bei jüdisch klingenden Namen mehr als ein Drittel der Befragten, wohingegen die als nicht-jüdisch wahrgenommenen Namensträger mit nicht einmal 15 Prozent Missbilligung davonkamen. Dasselbe auf der Seite neutraler Bewertungen oder Urteilsenthaltungen: Bei jüdisch-deutschen Namen entschieden sich 13 Prozent der Befragten so, bei Schmidt, Schneider und Huber fand mehr als ein Viertel, man könne das nicht moralisch beurteilen.
 
Zur Kontrolle wurde das Experiment mit britischen und italienischen Namen wiederholt. Damit sollte überprüft werden, ob ausländisch klingende Namen denselben Effekt haben wie jüdisch klingende. Hatten sie nicht, und die jüdisch klingenden wurden in einer weiteren Befragung im Vergleich zu den ausländischen auch nicht als “fremder” wahrgenommen. Außerdem wurde getestet, ob die Urteile auf radikale Einstellungen oder ablehnende Haltungen bei den Befragten zum kapitalistischen Wirtschaftssystem als solchem zurückgingen. Das war nicht der Fall.
 
Es scheint also durchaus einen Zusammenhang zwischen der moralischen Bewertung von Aktienkäufen und der Vermutung zu geben, sie würden von jüdischstämmigen Personen vorgenommen. Wichtig ist dabei: Die Ausrede der Antisemiten, Juden stünden den Finanzmärkten und zweifelhaften Geschäften tatsächlich näher, steht hier gar nicht zu Verfügung. Der als jüdisch wahrgenommene Name löst allein den Impuls zur negativen Sicht auf den Vorgang aus.
 
Wie kommt es dazu? Die Autoren bieten unterschiedliche Deutungen an. Die erste weist auf die zurückliegende Kombination von Judentum und Finanzmarkt hin. Noch um 1880 waren drei Prozent der Beschäftigten in Deutschland Juden, aber 23 Prozent der Beschäftigten im Finanzsektor und 85 Prozent der Börsenhändler in Berlin. Es gibt die hieran anknüpfenden Legenden vom gierigen Juden, der dem Geldgewinn gegenüber alle anderen Gesichtspunkte zurückstellt. Eine Geschichte, die man erzählen konnte, als Geldleihe und Landwirtschaft noch eine typische Gegenüberstellung bildeten. Die seitdem hervorgetretene Funktionalität von Börsen, Unternehmen zu finanzieren und Vermögen zu bilden, wird dabei ausgeblendet.
 
Jene Legenden hinterlassen, so gesehen, noch Spuren in einer deutschen Gesellschaft, deren Finanzsektor seit mehr als achtzig Jahren deutlich mehr von Michael Schneiders als von Noah Blumenbergs beeinflusst wird. Verwiesen wird hier auf eine Studie schwedischer Ökonomen, die jüngst einen Zusammenhang von größerer Marktliberalität und Antisemitismus festgestellt haben. Je offener ein Wirtschaftssystem, so ihr Befund, desto mehr Antisemitismus gebe es in dem betreffenden Land, je stärker die staatlichen Eingriffe, desto weniger antisemitische Einstellungen. Im konkreten Fall Deutschlands scheint allerdings das antijüdische Vorurteil sich auch unter den Umständen eines sehr aktiven Staats zu behaupten.
 
Eine verwandte Deutung stellt fest, dass es in manchen Ländern stärkere Reserven gegen die Börse gibt als in anderen. Man assoziiert mit ihr eher Verluste als Gewinne. Hier ist Deutschland einschlägig, die hiesigen Vorbehalte gegenüber Aktien sind bekannt. Eine Gruppe um den amerikanischen Ökonomen Francesco D’Acunto hat die Abhängigkeit entsprechender Einschätzungen von einer langen Geschichte des “ökonomischen Antisemitismus” untersucht. Überall dort, wo in deutschen Regionen vom Mittelalter bis zur NS-Diktatur der Antisemitismus besonders ausgeprägt war, finde man auch heute noch eine größere Anhänglichkeit an das Bargeld, geringen Aktienbesitz, weniger Hypotheken auf Immobilien.
 
Für die Diskussion, die gerade über Polemiken gegen “globalistische” Einstellungen geführt wird, sind anti-finanzwirtschaftliche Rhetoriken darum durchaus ein Beispiel. Der Kapitalismus erscheint als eine Verabredung von Konzernen und Fonds, die sich in einem Netzwerk organisieren. Von rechts wie links werden solche Rhetoriken seit jeher gegen die Geld- und Finanzwirtschaft ins Spiel gebracht. Je nach Jahreszeit hatte George Soros dann seine heftigsten antisemitischen Gegner bei den ungarischen Reaktionären oder in der englischen Labour Party.
 
Zurück zum Experiment: Die meisten seiner Teilnehmer waren selbst nicht jüdischer Abstammung. Dem unsachlichen Reflex gegen die jüdisch klingenden Namen mag darum auch ein generelles Vorurteil gegen Personen außerhalb der eigenen Bezugsgruppe zugrunde liegen. Denn ungutes Handeln kommt diesem Vorurteil zufolge typischerweise von außen. Nahestehende handeln verantwortlicher, wäre dann die Schlussfolgerung. Man muss nur eine Minute darüber nachdenken, um den Fehler zu finden: Die Nahestehenden handelten im Experiment gleich. Doch das Vorurteil dient ja gerade dazu, einem über das Nachdenken hinwegzuhelfen.
 
 
Literatur: Raphael Max und Matthias Uhl: “The downside of moralizing financial markets: Anti-Semitic stereotypes in German MTurkers”, Journal of Behavioral and Experimental Finance 31 (2021) Niclas Berggren und Theresa Nilsson: “Economic freedom and antisemitism”, Journal of Institutional Economics 17 (2020) Francesco D’Acunto u.a.: “Historical Antisemitism, Ethnic Specialization and Financial Development”, Review of Economic Studies 86 (2019).