Direkt nach der Machtergreifung in Deutschland am 30. Januar 1933 standen die paramilitärischen SA-Truppen der Nationalsozialisten vor den Kaufhäusern der Leonard Tietz AG, um Kunden vom Einkauf abzuhalten. Die jüdische Tietz-Familie war Mehrheitsaktionär der Warenhauskette und wurde nach dem Willen der neuen Machthaber aus dem Unternehmen herausgedrängt. Der Sohn des Unternehmensgründers musste seine Ämter in der Aktiengesellschaft aufgeben, die Familie ihre Anteile unter Wert an ein Konsortium der Dresdner Bank, der Deutschen Bank und der Commerzbank verkaufen. Auch der Name des Gründers musste verschwinden. Die Kaufhauskette wurde in Westdeutsche Kaufhof umbenannt und lebt heute in der Galeria Kaufhof weiter.
Der Fall der Familie Tietz ist das wohl prominenteste Beispiel für die Arisierung, die sich die Nationalsozialisten schon vor der Machtergreifung als Ziel gesetzt hatten. Überall in Deutschland wurden jüdische Geschäftsleute aus dem Wirtschaftsleben herausgedrängt. Im sauerländischen Neheim etwa feierte ein Propagandablatt im Oktober 1938, dass die Stadt „von Geschäftsjuden befreit“ sei, als das Kaufhaus Mühlfelder unter nichtjüdischem Eigentümer als Kaufhaus Baltus neu eröffnete. Auch Industrieunternehmen, Banken und andere Dienstleister trennten sich gemäß den politischen Vorgaben von jüdischen Managern und Anteilseignern.
Deutschlands geistiges und wirtschaftliches Leben verarmte
Die Folgen dieser wirtschaftlichen Diskriminierung verblassen vor dem unermesslichen Leid, das die Nationalsozialisten mit der Vertreibung und Ermordung der Juden den Verfolgten und ihren Familien zufügten. Doch die Arisierung schadete auch der gesamten Bevölkerung. Wer eine Bevölkerungsgruppe aus dem gesellschaftlichen Leben gewaltsam vertreibt, zerstört mehr als das Leben der direkt Betroffenen. Üblicher Beleg dafür ist der Exodus von Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen aus dem nationalsozialistischen Deutschland in freiheitlicher gesinnte Länder. Das geistige Leben in Deutschland verarmte, und der wissenschaftliche Erfindungsreichtum der Geflohenen strahlte von nun an im Ausland. Doch auch das wirtschaftliche Leben verarmte als Folge der Diskriminierung der Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung.
In jüngerer Zeit versuchen Wirtschaftshistoriker, die ökonomischen Kosten dieser Diskriminierung zu erfassen. Ausgangspunkt sind börsengehandelte Unternehmen, weil die Entwicklung der Aktienkurse eine verfügbare und recht zutreffende Einschätzung des Werts der Unternehmen gibt. Die Ökonomen Kilian Huber, Volker Lindenthal und Fabian Waldinger zeigen in einer umfangreichen statistischen Ausarbeitung, dass Manager jüdischer Abstammung überdurchschnittlich häufig in den Verwaltungsetagen der in Berlin börsengehandelten Unternehmen zu finden waren. Der jüdische Anteil an der Bevölkerung betrug in den frühen dreißiger Jahren etwa 0,8 Prozent. In den 655 untersuchten Unternehmen aber hielten jüdisch-stämmige Manager 15,8 Prozent der höheren Leitungspositionen. Als Zeichen besonderer Qualität waren sie im Durchschnitt erfahrener, überdurchschnittlich universitär gebildet und durch Managementposten mit anderen Unternehmen verbunden. Im Jahr der Machtübernahme 1933 sank der Anteil jüdisch-stämmiger Manager rasant um etwa ein Drittel. Bis 1938 waren sie weitgehend aus den Unternehmen verschwunden.
Kein Ersatz für die Vertriebenen und die Ermordeten
Die Vertreibung der jüdischen Manager hatte drastische Folgen. Den Unternehmen gelang es nicht, qualitativ vergleichbare Manager als Ersatz zu finden. Der Anteil der Leitungskräfte mit Erfahrung, universitärer Ausbildung und Verbindung zu anderen Unternehmen ging zurück. Die Aktienkurse der betroffenen Unternehmen entwickelten sich bis 1943, dem Endpunkt der Untersuchung, schlechter als die Kurse von Unternehmen, die Anfang der dreißiger Jahre keine jüdischen Manager beschäftigten. Die schlechtere Entwicklung der Kurse ist nach der Analyse unabhängig von guten oder schlechten Beziehungen der Unternehmen zur nationalsozialistischen Arbeiterpartei, unabhängig von Größe und Alter der Unternehmen und unabhängig von der Branche. Alles deutet darauf hin, dass es sich um einen direkten Effekt des Verlusts der jüdisch-stämmigen Manager handelt. Ausschlaggebend für die schlechtere Kursentwicklung waren die universitäre Ausbildung der Manager und ihre Verbindung zu anderen Unternehmen, weniger aber die in Beschäftigungsjahren gemessene Erfahrung. Die drei Ökonomen finden auch Hinweise, dass der erzwungene Verzicht auf die jüdisch-stämmigen Manager die Dividenden und die Rendite der betroffenen Unternehmen belasteten.
Könnte diese Benachteiligung mancher im Gegenzug dazu geführt haben, dass andere Unternehmen bessergestellt wurden? Die Ökonomen finden in ihren statistischen Daten dazu keine Hinweise, und wenn überhaupt, dann für das Gegenteil. In einer groben Rechnung beziffern sie den Wertverlust durch die Diskriminierung jüdischer Manager, gemessen an der Marktkapitalisierung, auf etwa 1,8 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das dürfte ein Mindestmaß sein. Die Verbannung der Juden aus dem Wirtschaftsleben führte nicht nur zum Verlust jüdisch-stämmiger Manager.
Der Schaden der Diskriminierung
In einer ähnlichen Untersuchung über die Entwicklung von Aktienkursen im NS-Staat beziffern die Ökonomen Jens Ihlow und Jens Carsten Jackwerth die wirtschaftlichen Kosten der Diskriminierung jüdischer Unternehmen geringer. Doch dabei handelt es sich nur um Überschlagsrechnungen. Relevanter ist in ihrer Studie, dass nicht die besondere Qualität der jüdisch-stämmigen Manager, sondern die allgemeine Benachteiligung jüdischer Unternehmen im Geschäftsleben die schlechtere Entwicklung der Aktienkurse erklärt. Das Bild der Diskriminierung wird so unübersichtlicher, aber vielleicht vollständiger.
Die Studien belegen am historischen Beispiel den schon 1957 vom späteren Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker theoretisch entwickelten Schluss, dass Diskriminierung den Unternehmen und der Gesellschaft wirtschaftlich schaden kann. Beckers Erkenntnis, dass ein lebhafter Wettbewerb am freien Markt Diskriminierten neue Chancen in anderen Unternehmen eröffnet, griff damals in Deutschland und im deutsch besetzten Ausland nicht. Ähnlich wie eine Quotenregelung war die Benachteiligung der Juden durch Gesetz erzwungen und hemmte die Marktkräfte, die der Diskriminierung entgegenwirken.
Literatur
Gary Becker (1957): The Economics of Discrimination, Chicago: The University of Chicago Press.
Kilian Huber, Volker Lindenthal und Fabian Waldinger (2021): Discrimination, Managers, and Firm Performance: Evidence from “Aryanizations” in Nazi Germany. NBER Working paper 28766.
Jens Ihlow, Jens Carsten Jackwerth (2020): Stock Market Performance of Jewish Firms During the Third Reich, 15. Mai 2020.
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