Die Industrielle Revolution veränderte das Leben der Menschen nachhaltig. Aber wuchs die Wirtschaft auch schon vorher? Eine neue Untersuchung wirft Licht auf eine vieldiskutierte Frage, die auch für die Einschätzung der Zukunft wichtig ist.
Dem modernen Wirtschaften ging eine viele Jahrtausende währende Zeit weitgehender wirtschaftlicher Stagnation voraus, die in Anlehnung an den britischen Ökonomen Thomas Malthus als “Malthusianische Epoche” oder “Malthusianische Falle” bezeichnet wird. (Zuletzt hatten wir uns in FAZIT mit diesem Thema in dem Beitrag “Jenseits von Afrika” befasst.) Über Jahrtausende wuchs die Bevölkerung nur langsam, weil eine nur geringe Innovationsdynamik die Produktivität niedrig hielt und die Menschen daher nicht in der Lage waren, eine deutlich wachsende Bevölkerung zu ernähren. Vereinfacht ausgedrückt: Die Menschen lebten im Rom zum Zeitpunkt von Christi Geburt im Durchschnitt kaum schlechter als im Rom des Jahres 1200.
Weitgehende Einigkeit besteht in der Forschung, dass die um das Jahr 1800 in England ausgebrochene Industrielle Revolution die Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Menschen radikal veränderte und einen von deutlichen Steigerungen der Produktivität und rückläufigen Geburtenraten begleiteten Prozess nachhaltigen Wirtschaftswachstums einleitete. Wir verweisen ein auf weitgehende und nicht vollständige Einigkeit in dieser Frage, weil der britische Wirtschaftshistoriker Clark unter anderem in seinem bekannten Buch “A Farewell to Alms” die provozierende These vertreten hat, die Bedeutung der Industriellen Revolution werde überschätzt. Auf der Basis von Kalkulationen seit dem 13. Jahrhundert gelangte Clark zu der Schlussfolgerung, das Wachstum der Produktivität in England habe in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht höher gelegen als in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Sollten seine Zahlen und Interpretationen korrekt sein, sei die Wirtschaftsgeschichte in der vorindustriellen Zeit äußerst erklärungsbedürftig, schrieb Clark.
Das Thema ist sehr alt: Seit dem 19. Jahrhundert arbeiten Ökonomen an Theorien, die den Übergang von der düsteren “Malthusianischen Epoche” in die moderne Zeit erklären wollen – und mittlerweile fehlt es nicht an empirischen Untersuchungen. Aus der Fülle der Theorien sei nur ein Gegensatzpaar erwähnt: In unserer Zeit haben Ökonomen wie Douglass North, der dafür einen Nobelpreis erhielt, und Daron Acemoglu auf die entscheidende Rolle demokratie- und wirtschaftsfreundlicher Institutionen als Vorbedingung für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum hingewiesen. Im Gegensatz dazu sah Karl Marx Institutionen als Ausprägungen eines vorgelagerten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das durch die Produktionsbedingungen gekennzeichnet war.
Ohne Empirie geht es nicht
Rein theoretisch ist diese Fragestellung wohl nicht zu beantworten, aber empirische Untersuchungen leiden unter einer Armut an zuverlässigen Daten aus längst vergangenen Zeiten. Daher sollte jede auch auf der Basis modernster Verfahren vorgenommene empirische Analyse mit einer gewissen Vorsicht aufgenommen werden. Gleichwohl wollen wir eine aktuelle Arbeit vorstellen, die von angesehenen Forschern der jüngeren Generation stammt und sich kritisch mit Arbeiten mancher Altmeister befasst.
Paul Bouscasse, Emi Nakamura und Jón Steinsson gelangen auf der Basis einer Schätzung der Produktivitätsentwicklung zu interessanten Ergebnissen.
- Nach ihren Forschungen begann das Wirtschaftswachstum in England etwa im Jahr 1600. Für die Zeit davor finden sie keine Hinweise auf ein Wachstum der Produktivität. Für die Zeit zwischen 1600 und 1810, eine Art Zwischenperiode, finden sie ein Produktivitätswachstum von durchschnittlich 4 Prozent je Dekade. Danach setzte mit der Industriellen Revolution ein dramatischer Wandel ein: Ab 1810 stieg die Produktivität dann um stolze 18 Prozent je Dekade. Diese Ergebnisse stehen in einem deutlichen Gegensatz zu den Ergebnissen Clarks.
- Die Produktivitätssteigerung nach 1810 riss die Wirtschaft aus der “Malthusianischen Epoche”. Thomas Malthus hatte, auf einer bescheidenen Datenbasis beruhend, Ende des 18. Jahrhunderts die düstere Prognose abgegeben, dass sich die Bevölkerung mit einer schnelleren Rate vermehrt als die Nahrungsmittelversorgung und dass die Menschheit auf lange Sicht und trotz möglicher Produktivitätsgewinne in der Industrie aus dieser Falle nicht entrinnen könne. Diese Ansicht hatte, wenn auch weniger dezidiert, Malthus Freund und intellektueller Sparringspartner David Ricardo geteilt. Daher geriet die von Ricardo und Malthus seinerzeit stark geprägte Volkswirtschaftslehre in den Ruf einer “trostlosen Wissenschaft” (dismal science). Bekanntlich ist es anders gekommen: Mit dem Aufschwung von Wirtschaft und Produktivität gingen im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Geburtenraten zurück, worauf in den entstehenden Industrienationen die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen deutlich stärker zulegten als von Malthus und Ricardo für möglich gehalten. Nach Bouscasse, Nakamura und Steinsson waren die Produktivitätssteigerungen in der Industriellen Revolution so gewaltig, dass sie auch bei unveränderten demografischen Trends für eine Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen gereicht hätten. Malthus und Ricardo waren viel zu pessimistisch gewesen.
Theorie und Fakten
Interessant ist die Frage, zu welcher Theorie der Entstehung des Wirtschaftswachstums die empirischen Untersuchungen passen. Die drei Autoren sind vorsichtig und halten eine monokausale Erklärung für die im Jahre 1600 allmählich beginnende Dynamik für unwahrscheinlich. Wie auch immer: Erklärungen, die in der Bildung demokratie- und wirtschaftsfreundlicher Institutionen die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Wirtschaftswachstums sehen, passen nicht so recht zu den vorgelegten Daten. Unter den Anhängern einer auf institutionellem Wandel beruhenden Wachstumserklärung gilt die Glorreiche Revolution von 1688/1689 als ein sehr wichtiges Ereignis. Was Bouscasse & Co. herleiten, passt aber, wie sie schreiben, eher zur These von Karl Marx, nach der institutioneller Wandel das Ergebnis sich verändernder Wirtschaftsstrukturen ist.
Diese scheinbar gegensätzlichen Erklärungen lassen sich indessen unter einem Dach vereinen, wie es Acemoglu/Johnson/Robinson getan haben. Demnach hat die Entdeckung Amerikas und die nachfolgende Ausbreitung des Welthandels eine vermögende Klasse von Händlern entstehen lassen, die auf sichere Eigentumsrechte drangen und damit die nachfolgenden Änderungen der Institutionen wie in der Glorreichen Revolution begünstigten. Diese institutionellen Änderungen schufen dann die Voraussetzungen für eine Belebung des Wirtschaftswachstums. Auch andere, durchaus kontroverse, Erklärungsversuche wurden vorgelegt – man denke an Max Webers These von der wirtschaftsförderlichen Wirkung des Protestantismus. Nicht mehr ernst genommen wird schon lange der Versuch Werner Sombarts, einen “Geist des Kapitalismus” zu bemühen.
Produktivität und Digitale Revolution
Dieser Blick in die Vergangenheit ist nicht nur aus historischen Gründen interessant. Denn er verdeutlicht die Wucht, mit der kräftige Produktivitätsfortschritte wirtschaftlichen Wandel befördert und mit ihm einen Wandel der Bedingungen, unter denen sehr viele Menschen leben. Aktuell stellt sich die Frage, ob sich die Dynamik der digitalen Revolution in einer nachhaltigen Produktivitätssteigerung niederschlagen wird. Das ist ein eigenes Thema, hingewiesen sei an dieser Stelle auf eine optimistische Einschätzung von Erik Brynjolfsson und Georgios Petropoulos: “The coming productivity boom”. Gestützt unter anderem auf diese Annahme haben manche Ökonomen schon ein “Goldenes Jahrzehnt” ausgerufen. Die Volkswirtschaftslehre ist nicht länger eine vorwiegend der Düsternis zugewandte Wissenschaft.