Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ehrt in diesem Jahr Ökonomen, die Wissen auf den Kopf stellen. Doch ihre Forschung hat Schattenseiten.
In der manchmal drögen Wirtschaftswissenschaft gibt es nur wenige Arbeiten, die mit Wucht in der politischen Debatte und in der breiteren Öffentlichkeit einschlagen. Eine solche Studie erschien in den frühen Neunzigerjahren, und sie schien vieles auf den Kopf zu stellen, was Ökonomen wussten. Es ging um den Mindestlohn. Die Theorie lehrt, dass ein Mindestlohn im Regelfall Arbeiter in unteren Lohngruppen in die Arbeitslosigkeit treibt, weil die Lohnhöhe nicht mehr durch die Leistung gedeckt ist. Nun aber zeigten die nordamerikanischen Ökonomen David Card und Alan Krueger, dass ein höherer Mindestlohn die Beschäftigung für Angestellte in Fast-Food-Restaurants scheinbar sogar noch ein wenig gesteigert hatte. Das war ihre Beobachtung, nachdem der amerikanische Bundesstaat New Jersey 1992 den Mindestlohn von 4,25 auf 5,05 Dollar je Stunde angehoben hatte.
Card und Krueger lösten eine intensive Debatte im politischen und im wissenschaftlichen Raum aus. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, sagten manche. Andere fanden Erklärungen, die die Allgemeingültigkeit des New-Jersey-Beispiels infrage stellten. Forscher untersuchten viele weitere Fälle. Drei Jahrzehnte später ist eine faire Beschreibung des ökonomischen Wissens wohl, dass Mindestlöhne im Prinzip schädlich sind, unter bestimmten Bedingungen aber nicht so schädlich, wie es einst vermutet wurde. Die Wissenschaftler sind damit klüger, die politischen Entscheidungsträger nur bedingt.
Theoretisieren am Schreibtisch
Unter anderem für diese Mindestlohnstudie wurde dem Kanadier David Card, der an der Universität Berkeley in Kalifornien lehrt, gerade der Preis der Schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel hälftig zugesprochen. Mitautor Alan Krueger wäre sicher auch geehrt worden, doch er starb vor zwei Jahren. Card teilt sich den Preis mit dem Amerikaner Joshua Angrist und Guido Imbens aus den Niederlanden. Beide lehren und forschen in Amerika.
Card erhielt den Preis nicht wegen des Aufruhrs, den die Studie verursachte. Die Juroren ehrten vielmehr, dass er der empirischen Wirtschaftsforschung eine neue Richtung gewiesen hatte. Dazu muss man sich das Grundproblem der Ökonomen vor Augen halten. Ökonomen können in die Welt blicken und am Schreibtisch darüber theoretisieren. Sie können ihre Theorien üblicherweise aber nicht mit Experimenten im normalen Leben testen.
In anderen Wissenschaften gibt es solche Experimente. Pharmakologen prüfen die Wirksamkeit von Medikamenten mit freiwilligen Teilnehmern. Zufällig ausgewählten Patienten wird das Medikament verabreicht, andere erhalten ein Placebo ohne Wirkstoff. Im Vergleich der Gruppen lassen sich Wirksamkeit und Nebenwirkungen des Medikaments hinreichend gut erfassen. Aber wie will man praktisch prüfen, ob eine längere Schulausbildung später höhere Einkommen im Beruf mit sich bringt? Soll man manche Schüler zwingen, die Schule abzubrechen? Und andere antreiben, wider Willen bis zum Abitur durchzuhalten?
Der Lohn längerer Schulzeit
Card verfolgte die kluge Idee, natürliche Experimente zu nutzen. Manchmal werden Gesetze und Regeln geändert, die einen Vergleich zufällig ausgewählter Testgruppen ermöglichen. In der Mindestlohnstudie etwa verglichen Card und Krueger die Entwicklung am Arbeitsmarkt in New Jersey mit der Entwicklung im benachbarten Pennsylvania, das den Mindestlohn nicht geändert hatte. Die Bevölkerung in der Grenzregion beider Staaten ist ähnlich. Die Regionen unterliegen den gleichen gesamtwirtschaftlichen Einflüssen. Wichtige Unterschiede, die das Ergebnis verzerren könnten, waren so weitgehend ausgeschlossen. Der Versuchsaufbau ähnelt fast schon einem klinischen Test: Den Menschen in New Jersey wurde der höhere Mindestlohn verabreicht, denen in Pennsylvania nicht.
Ein anderes natürliches Experiment half bei der Frage, ob eine längere Schulausbildung zu höheren Berufseinkommen führt. Statistisch ist gut abgesichert, dass Menschen, die länger die Schulbank drücken, später mehr Geld verdienen. Das ist aber kein Beweis, dass die längere Schulausbildung ursächlich für die höheren Einkommen ist. Man darf annehmen, dass klügere Menschen die Schule seltener abbrechen, vielleicht, weil sie auch noch studieren wollen. Die höheren Einkommen von Langzeitschülern gründen so vielleicht gar nicht in der längeren Ausbildung, sondern in ihren generell besseren Fähigkeiten. Es ist unklar, wer oder was hier wen beeinflusst. Die Kausalität ist unbestimmt.
Hinweise zur Kausalität lassen sich nur gewinnen, wenn die Teilnehmer an Experimenten zufällig ausgesucht werden. Es braucht Schüler, die zufällig ohne eigenes Dazutun länger oder kürzer an der Schule bleiben. Eine bizarre Besonderheit des amerikanischen Schulsystems bietet ein solches natürliches Experiment. Alle Schüler eines Jahrgangs werden am selben Tag eingeschult, doch sie können die Schule je nach Bundesstaat mit dem 16. oder 17. Geburtstag verlassen. Fortuna, die über das Geburtsdatum bestimmt, setzt so rein zufällig Testgruppen mit unterschiedlich langer Schullaufbahn zusammen. Angrist und Krueger nutzten dieses natürliche Experiment und ermittelten, dass ein Jahr mehr Schulbildung das Einkommen um 9 Prozent steigere.
Aus dem Gleichgewicht geraten
Das ist ein überraschend hoher Wert. Doch die Untersuchung ist an dieser Stelle nicht zu Ende. Zu beachten ist, dass diejenigen, die ohnedies länger an der Schule bleiben wollten, das Ergebnis beeinflussen. Sie gilt es gedanklich in der Analyse von den anderen zu trennen. Das Einkommensplus von 9 Prozent für ein Jahr mehr auf der Penne gilt so nur für die Aussteiger, die Rebellen, die die Schule verlassen, sobald es möglich ist. Das lässt den Wert plausibler erscheinen. Diese Erkenntnis und weitere methodische Feinheiten verdanken die Ökonomen den neuen Nobelpreisträgern Angrist und Imbens.
Die Nobelpreise für Ökonomik sind gedacht für Forscher, deren Arbeiten die gesamte Zunft vorangebracht haben. Für Card, Angrist und Imbens gilt das ohne jeden Zweifel. Der Fokus auf natürliche Experimente eröffnete den Ökonomen ein weites Feld. Nicht umsonst ging schon 2019 der Preis an experimentelle Forschung zu Erfolgen und Misserfolgen in der Entwicklungshilfe. Doch diese Entwicklung hat in Verbindung mit modernster Computertechnik auch ihre Schattenseiten. Ein Blick in die Fachzeitungen belegt, dass Ökonomen immer tiefer in immer spezielleren Statistiken herumgraben und sich in der Datenanalyse verlieren. Das geht auf Kosten der theoretischen Erkenntnis. Im Idealfall ergänzen sich Daten und Theorie und halten sich gegenseitig in Schach, um die Forschung relevant und wirklichkeitsnah zu halten. Dieses Gleichgewicht scheint ein wenig aus den Fugen geraten. Das ist die Kehrseite der spannenden Forschung mit natürlichen Experimenten.
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