Staatsschulden sind kein Problem, wenn die Zinsen nur niedrig genug sind? Von wegen. Anmerkungen zu Olivier Blanchards neuen Thesen zur Begründung expansiver Finanzpolitik.
Frankreich wird in der ersten Hälfte des Jahres 2022 die Präsidentschaft in der Europäischen Union wahrnehmen. Präsident Emmanuel Macron hat bereits angekündigt, diese Präsidentschaft für eine Überprüfung der im Vertrag von Maastricht festgeschriebenen Regeln für die Finanzpolitik zu nutzen. Was oft verharmlosend als Wunsch nach größerer finanzpolitischer Flexibilität daherkommt, ist in der Praxis häufig die Absicht, die eigene Staatsverschuldung schneller wachsen zu lassen als mit den Maastrichter Regeln vereinbar. Dieser Wunsch wird in der EU vor allem von Ländern vorgetragen, die ohnehin schon eine im Vergleich hohe Staatsverschuldung aufweisen. Was soll man davon aus ökonomischer Sicht halten?
Es ist ein glückliches Zusammentreffen, dass gerade jetzt mit Olivier Blanchard ein Ökonom den Entwurf eines neuen Buches vorlegt, der in den vergangenen Jahren sehr zu einer Debatte über Potenziale und Grenzen schuldenfinanzierter Finanzpolitik beigetragen hat. Der aus Frankreich stammende, seit Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lebende Ökonom hat eine Vorabversion seines Buches samt 45 zusammenfassender Thesen veröffentlicht.
Blanchard befasst sich zunächst mit dem in vielen Ländern beobachtbaren Rückgang der Realzinsen für sichere Kapitalanlagen, der sich augenfällig seit rund vier Jahrzehnten beobachten lässt, tatsächlich aber schon seit dem 14. Jahrhundert nachweisbar ist. Diese Rückgang reflektiert eine Entwicklung, in der das mit optimalem Wirtschaftswachstum vereinbare Zinsniveau gefallen ist. Für den langfristigen Rückgang des Zinsniveaus werden vor allem grundlegende Trends wie die Demografie, die Produktivitätsentwicklung und eine starke Nachfrage nach sicheren und liquiden Kapitalanlagen wegen zunehmender Risikoscheu genannt.
An Geldwertstabilität (und oft hoher Beschäftigung) ausgerichtete Zentralbanken haben in den vergangenen Jahrzehnten den fundamental verursachten Zinsrückgang überwiegend nachvollzogen: Zentralbanken sind damit nicht die eigentlichen Verursacher niedriger Realzinsen. Steigern ließe sich der niedrige Realzins durch höhere Investitionen von Staaten wie von privaten Unternehmen.
Dieses Bild dürfte heute von den meisten Ökonomen im Grundsatz geteilt werden, auch wenn einzelne Punkte diskussionsfähig bleiben. (So ist eine langfristige Beeinflussung des Realzinses durch Geldpolitik zu einem gewissen Grade denkbar.) Spannend sind Blanchards Resultate für die Finanzpolitik in einer Zeit, in der unter anderem mit Blick auf den Klimaschutz der Ruf nach einer Lockerung von Schuldenregeln ertönt. Der Ökonom wiederholt zunächst die These, wonach der Verschuldungsspielraum von Staaten rein mathematisch zunimmt, wenn der Zins der Staatsverschuldung unter der Wachstumsrate der Wirtschaft liegt.
Allerdings ist Blanchard, anders als Anhänger der erschreckend naiven „Modern Monetary Theory“ und andere Vertreter der These, Staatsschulden müssten nicht zurückgezahlt werden, nicht völlig realitätsfremd. Er sieht natürlich das Problem, dass mit einer zu raschen Zunahme der Staatsverschuldung das Vertrauen von Kapitalgebern in die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen abnehmen kann. In der Praxis lässt sich diese Situation in der Eurozone beobachten, wo seit dem Ausbruch der Pandemie private Anleger im Saldo ihre Bestände an italienischen Staatsanleihen reduziert haben, während die EZB alleine die Neuverschuldung finanzieren musste. Staatsanleihen können schnell und unvorhergesehen den Status einer sicheren Kapitalanlage verlieren und als eine sehr riskante Anlage wahrgenommen werden, für die private Anleger eine hohe Verzinsung fordern.
Viele Vertreter expansiver Finanzpolitik sagen: Dann soll die Zentralbank mit Anleihekäufen den Regierungen die Finanzierung von Staatsausgaben nach Wunsch ermöglichen. An dieser Stelle kommt Blanchard ins Schwimmen. Er befürwortet zwar eine Stabilisierung von Anleiherenditen durch Zentralbankkäufe, wenn damit wirtschaftlich unbegründete, durch Marktpanik ausgelöste Renditeanstiege neutralisiert würden. Eine generelle Stabilisierung von Renditen ist ihm jedoch nicht geheuer: „Es ist weniger klar, dass Zentralbanken die Zinsen niedrig halten können, wenn die Zinsen schlechte Fundamentaldaten und ein höheres Risiko fehlender Tragfähigkeit der Staatsverschuldung reflektieren.“
Der Einwand gegen diese Argumentation liegt auf der Hand: Lässt sich unbegründete Marktpanik von begründeten Zweifeln stets unterscheiden und vermag man eine daraus folgende politische Instrumentalisierung der Zentralbank verhindern? Angenommen, der Unterschied der Verzinsung der Anleihen italienischer und deutscher Anleihen nähme in den kommenden Monaten deutlich zu. Nicht nur die Regierung in Rom dürfte dann rufen: „Das ist unbegründete Marktpanik, die EZB muss eingreifen.“ Ein höheres Renditeniveau für diese Anleihen ließe sich mit Blick auf die seit langem geringe Bereitschaft privater Anleger, die Papiere zu Niedrigzinsen zu erwerben, aber auch fundamental begründen.
Blanchard befürwortet an Stelle der derzeitigem, ihm zu starren Maastricht-Regeln ein Regelwerk, das sich an der Tragfähigkeit der Staatsschulden ausrichtet. Darüber ließe sich im Grundsatz ja reden, aber dem Ökonomen geht es wie Macron zu offensichtlich darum, zusätzliche Verschuldungsspielräume zu schaffen. Er stellt sich vor, dass Länder, die mit Blick auf ihre Schuldentragfähigkeit Spielraum für zusätzliche kreditfinanzierte Ausgaben haben, diese auch nutzen. Deutschland wäre ein offensichtlicher Kandidat, aber es ließe sich mit dieser Argumentation auch die Gründung weiterer schuldenfinanzierter Fonda auf EU-Ebene befürworten.
Nun existieren auch Länder, deren Verschuldungsspielräume gering bis nicht-existent sind. Blanchard erinnert in einer wichtigen Passage daran, dass öffentliche Investitionen keineswegs immer mit Schulden finanziert werden müssen – eine alte Erkenntnis, die nicht wenige heutige Befürworter expansiver Finanzpolitik verdrängt zu haben scheinen. Und im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten räumt Blanchard mit Blick auf die Inflationsgefahren auch die Möglichkeit einer zu expansiven Finanzpolitik ein.
Blanchard ist ein bedeutender Makroökonom, aber in seinem Bemühen, wohlmeinenden Politikern zu helfen, unterschätzt er Lektionen aus der Ökonomischen Theorie der Politik (Public Choice), die nicht nur deutsche Ordnungsökonomen kennen. Eigeninteressen von Politikern stehen nicht selten einem langfristig nachhaltigen Umgang mit Staatsschulden im Wege; diese Erfahrung muss das Design von Fiskalregeln mitbestimmen. Finanzpolitik ist zu wichtig, um sie alleine Makroökonomen zu überlassen.