Einer der berühmtesten Ökonomenwitze handelt von den zehn Ökonomen mit elf Meinungen, von denen mindestens zwei von John Maynard Keynes vertreten werden. Die Meinungsvielfalt der Ökonomen zeigt sich auch, wenn es um den Inflationsschub geht, der in diesen Monaten viele Länder nicht nur im Westen erfasst hat. In einer aktuellen Umfrage unter 111 Fachleuten der Makroökonomik nennen die Befragten nicht weniger als 14 Gründe für das steigende Preisniveau in den Vereinigten Staaten.
Unter den Inflationsgeschichten der Fachleute sind besonders prominent vertreten die Schwierigkeiten in den Lieferketten, die Staatsausgaben, die Corona-Pandemie und die Geldpolitik. Die Verknappungen von Gütern wegen gedehnter oder gerissener Lieferketten sind ein Problem des mangelnden Angebots, das Preise nach oben treibt. Steigende Staatsausgaben und expansive Geldpolitik führen dagegen zu einer höheren Nachfrage, die den Preisdruck erhöht.
Der Unterschied zwischen angebots- oder nachfrageseitigem Preisdruck ist entscheidend dafür, ob und wie man der Inflation begegnen kann. Zentralbanken können mit steigenden Zinsen die Nachfrage dämpfen. Sie können aber nicht für mehr Halbleiter und Computer sorgen, für mehr Kabelbäume und Autos oder für mehr LCD-Bildschirme und Fernseher. Gegen Preisdruck, der von der Angebotsseite ausgeht, ist die Geldpolitik direkt machtlos. Deshalb empfehlen Ökonomen zum Beispiel, gegen einen Ölpreisschub geldpolitisch nicht vorzugehen und ihn durchlaufen zu lassen, solange er nicht zu Zweitrundeneffekten führt. Überzogene Lohnsteigerungen, um die höheren Energiepreise an der Tankstelle auszugleichen, wären ein solcher unerwünschter Zweitrundeneffekt.
Indirekt aber spielt die Geldpolitik auch beim angebotsseitigen Preisdruck eine Rolle. Steigende Preise einzelner Güter können das gesamte Preisniveau nur dann in die Höhe treiben, wenn die Zentralbanken die Entwicklung monetär alimentieren und die Geldmenge entsprechend ausdehnen. Vereinfacht gesagt: Wenn Paul mehr Geld an der Tankstelle oder im Heizöltank lässt, kann er mit dem Geld andere Güter nicht mehr nachfragen. Die Preise der anderen Güter werden dann sinken oder weniger stark steigen, was für sich genommen den generellen Inflationsdruck wieder dämpft. Nur wenn die Zentralbanken mehr Geld in die Wirtschaft pumpen, kann angebotsseitiger Preisdruck sich zur Inflation auswachsen. Nach Jahren der expansiven Geldpolitik wartet derzeit genug Geld in der Wirtschaft, um auch mit angebotsseitig steigenden Preisen nachfragewirksam zu werden.
Die meisten Ökonomen in der Umfrage nennen sowohl angebots- als auch nachfrageseitige Gründe für die aktuelle Inflation. Das ist keine Verbeugung vor der Meinungsvielfalt von Keynes, sondern Ausdruck einer komplexen Umwelt, in der mehrere Faktoren die Preisentwicklung gleichzeitig bestimmen.
Was kommt von der Diskussion unter Fachleuten in der Bevölkerung an? Das Schöne an dem vorliegenden Forschungsaufsatz von vier Ökonomen ist, dass sie nicht nur Fachleute, sondern auch normale Bürger in den Vereinigten Staaten und damit das Forschungsobjekt selbst nach den Ursachen für die Inflation gefragt haben. Die beiden Umfragen nebeneinander ermöglichen den Vergleich, ob Ökonomen und Bürger ähnliche Inflationsgeschichten erzählen und ähnlich denken.
Das erste Ergebnis ist, dass die Bürger einfacher denken als Experten. Ihre Argumentationsketten sind im Schnitt einseitiger, kürzer und gröber. Ein Bürger etwa könnte sagen, dass die Pandemie die Preise steigen lässt. Ein Fachmann dagegen könnte argumentieren, dass in der Pandemie der Staat seine Ausgaben erhöht hat und nun zusammen mit der zurückgestauten Nachfrage die Preise in die Höhe treibt. Der Vergleich ist ein ungewollter Beleg, dass ein Studium der Ökonomik sich lohnt, falls man komplizierter argumentieren möchte.
Ein weiterer Unterschied ist, dass die Bürger die Gründe für die Inflation überwiegend auf der Angebotsseite sehen. Sie nennen zerrissene Lieferketten oder zu wenig Arbeiter weit häufiger als Inflationsgrund als die hohen Staatsausgaben. Dagegen denken die Ökonomen mehr an Angebot und an Nachfrage. Die Geldpolitik wird nur von fünf Prozent der befragten Haushalte als Grund genannt. Das ist auffällig. Zentralbanken sollten sich fragen, warum die Bürger ihnen keine Verantwortung zuteilen und daraus keine falschen Schlüsse ziehen.
In den Inflationserzählungen der privaten Haushalte nehmen politische Schuldzuweisungen eine große Rolle ein. Als einen der wichtigsten Gründe des Inflationsschubs nennen die Bürger politische Misswirtschaft, mit anschließendem Verweis auf die Staatsausgaben, die Schwierigkeiten in den Lieferketten oder die Energiekrise. Die politische Zugehörigkeit der Befragten zu Demokraten oder Republikanern beeinflusst ferner, ob sie die Inflation mit der Pandemie und einem knappen Angebot oder mit politischem Fehlverhalten begründen. Man wüsste gerne, ob auch die Inflationserzählungen der Fachleute von den politischen Präferenzen abhängen. Das haben die Autoren leider nicht untersucht.
Eine andere Auffälligkeit ist, dass die privaten Haushalte Inflationsursachen vermuten, denen keiner der Fachleute Relevanz zumisst. Acht Prozent der befragten Bürger führen die Inflation auf Preiswucher zurück. Doch wenn Unternehmen in Zeiten knapper Güter ihre Preissetzungsspielräume ausnutzen, ist das erwünscht, um Nachfrage und Angebot in neue Knappheitsverhältnisse zu lenken. Das kann man moralisch als Wucherei verurteilen, doch zur Erklärung der Inflation ist damit nichts gewonnen.
Nicht zuletzt zeigen die Autoren, dass die Erwartungen über die künftige Inflation abhängen von den Geschichten, mit denen die Menschen sich die aktuelle Preissteigerung erklären. Wer in der heutigen Inflation überwiegend einen Energiepreisschub sieht, rechnet mittelfristig mit einer niedrigeren Inflation als derjenige, der die Inflation auf hohe Staatsausgaben zurückführt. Im Kern entspricht das den Unterschieden zwischen angebots- und nachfrageseitigem Preisdruck.
Das ist im Prinzip von Bedeutung für die Geldpolitik, weil Erwartungen über die künftigen Preise eine Rolle für die künftige Inflation spielen. Doch zeigen die Umfragen zugleich, dass die Menschen zumindest in den Vereinigten Staaten an sehr unterschiedliche Inflationsgeschichten glauben und an mindestens so viele wie die ökonomischen Fachleute und die Zentralbanken selbst. Der Wert der Inflationsgeschichten für die konkrete Geldpolitik ist deshalb nicht direkt ersichtlich.