Foto: RTL
Man tut Michael Hirte nicht unrecht, wenn man sagt, dass er kein großer Mundharmonikerspieler ist. Dass die RTL-Show, die er am vergangenen Samstag gewonnen hat, zwar „Das Supertalent“ heißt, er aber vielleicht eher nur ein So-mittel-Talent ist. Den Fernsehzuschauern, die ihn wählten, war es egal, ob es bessere Mundharmonika-Spieler gibt und größere Talente. Das Publium war sich mit überwältigender Mehrheit einig: Dieser Mann hatte es verdient zu gewinnen. Weil er so sympathisch wirkt und in seinem Leben viel Pech hatte. Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Talent.
Bevor Michael Hirte zum ersten Mal in der Show spielte, hatte RTL den Zuschauern schon seine Geschichte erzählt: Dass der LKW-Fahrer 1991 schwer verunglückt ist, für zwei Monate Koma fiel, seitdem gehbehindert ist und auf einem Auge nicht sehen kann, zur Zeit arbeitslos ist, von Hartz-IV lebt und sich ein paar Euro als Straßenmusiker verdient. Ohne diese traurige Geschichte wäre der große Erfolg des Mundharmonika-Spielers nicht zu erklären, und das ist völlig in Ordnung so: für ihn, für das Publikum, für die Show, für alle.
Dieser Effekt ist auch nicht neu. Neu ist, dass das noch nicht genug ist: die Behinderung, die Arbeitslosigkeit, die Geldnot. Dass Michael Hirtes Schicksal gerade fast jeden Tag noch tragischer werden muss.
Inzwischen ist bekannt: Dass er von seiner Ehefrau verlassen wurde, angeblich war sie eines Tages einfach weg. Dass seine Frau ihn anzeigte, wegen Körperverletzung, und ihn als Trinker bezeichnet. Dass zwei Männer in seine Wohnung eingedrungen sein und ihn verprügelt haben sollen. Dass er einen Offenbarungseid ablegen musste.
Heute informierte „Bild“ die Öffentlichkeit darüber, dass sein „Stiefpapa“ dement sei und von Michael Hirtes Mutter betreut werde. Dass sie schweren Krebs habe, sich regelmäßig ärztlichen Behandlungen unterziehen müsse und einen künstlichen Darmausgang trage. „Was keiner weiß“, hat die Zeitung davor geschrieben. Das wird man nicht mehr so oft schreiben können im Zusammenhang mit diesem „Supertalent“.
Michael Hirte setzt gerade ungewollt Maßstäbe, wie viel ein Mensch erlitten haben muss, um sich unsere Anteilnahme zu verdienen. Es ist eine Entwertung des Elends. Aber jede weitere Veröffentlichung von traurigen Details aus seinem Privatleben lässt uns nun sogar doppelt Mitleid haben mit ihm: nicht nur, dass er das alles erleiden muss, sondern auch, dass all das nun öffentlichkeitswirksam ausgebreitet wird, verwurstet zu Schlagzeilen, Bilderstrecken, „Explosiv“-Beiträgen.
Joey Kelly, der selbst mit der Kelly-Family jahrelang als Straßenmusiker über die Dörfer zog, bevor der große Erfolg kam, hat Michael Hirte am Montag in der RTL-Sendung „Extra“ einen erstaunlich offenen Ratschlag gegeben: Er solle jetzt „alles mitnehmen, was geht und richtig Vollgas geben, die nächsten ein, zwei Jahre, weil: Das kann schneller aussein, als man denkt.“ Joey Kelly weiß, wovon er spricht, und vermutlich hat er Recht. Nur dass es so scheint, als sei Michael Hirte einer dieser neuen „Stars“, für die „alles mitnehmen, was geht“ in Wahrheit bedeutet „alles abgeben, was geht“ – von seiner Privatsphäre.
Worte, fast meiner Seele...
Worte, fast meiner Seele entnommen…
Dabei gibt es innerhalb dieser Perversion noch eine Steigerung: Der Zuschauer entscheidet nicht nur alleine anhand der Elendsfakten über Gunst oder Ungunst. Nein, vielmehr muss und kann er sich auch noch zwischen den Elenden entscheiden. Was wiegt nun mehr? Der HIV-positive, der vielleicht nicht mehr lange zu leben hat? Oder doch der Junge mit der Mundharmonika? Hmmm… also der Aidskranke hätte ja besser aufpassen können… der andere… der da mit der Mundharmonika und der Mütze… also der kann eigentlich nix für sein Schicksal…. ach komm, dem gönn` ich die Kohle.
Ausserdem sind gewisse, frei einsehbare Einschränkungen in körperlicher Hinsicht ebenfalls nicht von Nachteil. Schau… der arme Hirte, dem sieht man aber sein Elend ins Gesicht geschrieben, dabei will er doch einfach nur raus aus dem Elend, sich hochkämpfen, ein bisschen normales Leben.
Aber wehe dem, Wochen zuvor schlenderte man in vorweihnachtlicher Stimmung durch die Kölner Innenstadt, den Wegesrand gesäumt von Straßenmusikern… da dürfte so manches Mal der Ausspruch fallen: „Such Dir richtige Arbeit, faules Stück!“ Ist es nicht herrlich, was uns die Medienlandschaft zu kredenzen versucht und ist es nicht um so erschreckender, wie leicht eine TV-Nation beeinflussbar ist?
Das „Skandalmeldungen“ in Kooperation mit der Bild bei RTL-Formaten vorprogrammiert und vermutlich in Hülle und Fülle vorarchiviert werden: Nix neues. Für mich ist bei jeder DSDS oder Supertalentstaffel die einzige Spannung darin liegend, WAS für eine Meldung man sich nun wieder rund um die vertraglich versklavten Protagonisten ausgedacht hat. In diesem Sinne…
…frohes Fest. Dieses Jahr wird die Blockflöte der Mundharmonika weichen, vielleicht gibt`s dann mehr auf den Gabenteller…
Man fragt sich nur, welches...
Man fragt sich nur, welches neue Unglück er morgen herbeifinden muss, für die Bild-Zeitung, um nicht schon übermorgen und für immer aus den Schlagzeilen heraus zu sein. Ohr weg? Stimme weg? Monika weg? Sein Spiel war gefälscht und nur Playback? Er ist ein Unglücks-Betrüger? Der uneheliche Sohn von Dieter Bohlen? Er muss jetzt in die Dschungel-Show? Armer Herr Hirte. Alles kein Spaß.
Es ist schon erschreckend:...
Es ist schon erschreckend: jetzt habe ich diese Blogs durchgelesen, ohne das mich dieses Thema überhaupt interessiert. Verwunderlich ist doch die Wirkung des Neuen. Da hat die FAZ nun auch Blogs im Angebot und man bleibt doch irgendwie hängen. Allerdings merke ich soeben beim schreibn, dass ich auch sehr schnell wieder loskomme. Generell ist zu sagen, dass diese Shows der Selbstdarstellung mit einem enorm exibitionistischen Charakter eher unwichtig sind und von daher auch besser von den Medien so behandelt würden. Tja, aber ich habe ja nun dazu auch eine Meinung kommuniziert.
Fazit: es gibt noch immer eine wunderbare Einrichtung beim Fernsehen, den Aus-Schalter oder Power-Button. Wobei wir bei einem neuen (unwichtigen?) Thema wären, Anglizismen, über das sich trefflich diskutieren lässt.
Lieber Thulium,
lassen Sie es...
Lieber Thulium,
lassen Sie es mich doch einmal pseudophilosophisch so zum Ausdruck bringen:
„Ausschalten kann man nur, was vorher eingeschaltet wurde!“
Oder anders:
„Nicht beachten kann man nur das, was vorhanden ist!“
In diesem Sinne?
Schon die Römer wussten es:...
Schon die Römer wussten es: „Gebt dem Volk Brot und Spiele. Auf das sie sich ergötzen an des anderen Leid“. Der Kapitalismus hat es in Deutschland so weit gebracht, dass es eine Bourgeoisie gibt, die sich im Kolosseum (Fernsehen) die Spiele (Deutschland sucht den, was weiss ich nicht …) ansieht und dann am Ende mit dem Daumen (SMS/Handy) zu entscheiden ob er/sie getötet wird (rausfliegt) oder überleben darf (Millionen Werbegelder bekommt). Immer wenn eine Gesellschaft an das Ende ihrer Dekadenz kommt, arten solche Sachen aus, bis diese einstige Hochkultur unter geht. So war es mit Rom und so wird es auch mit Deutschland sein. Daran sind nicht die Ausführenden, sondern immer die Zuschauer schuld.