Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Manchmal ist nur nicht klar, wo sie herkommen soll. Also, außer natürlich aus dem Fernsehen.
Am gestrigen Mittwoch lief bei RTL die 99. Folge der „Super Nanny“, in der Erzieherin Katia Saalfrank Familien besucht, in denen es drunter und drüber geht, um Lösungsvorschläge anzubieten. Im Wesentlichen ging es darum, dass eine alleinerziehende Mutter ihren siebenjährigen Sohn massiv misshandelt, ständig ausflippt, wenn er sich nicht so verhält, wie sie es will, ihn anschreit, schlägt und tritt. Und dass sie weiß, dass das falsch ist (Video bei rtl-now.de ansehen).
Es war, ehrlich gesagt, erschütternd zu sehen, wie die Mutter erzählt, dass sie ihren Sohn eigentlich bloß „abfertigt“ (wie sie es selbst formulierte) und sagt: „Er weiß: Ich lehne ihn ab, aber er kommt ja immer wieder.“ Und wie der Sohn erzählt: „Ich werde oft von Mama geschlagen, aber es gibt auch Gründe dafür – wenn ich zum Beispiel den Tisch nicht richtig decke.“ Und es war erschütternd, dass das die „Unterhaltung“ ist, die Menschen sich abends um 20.15 Uhr bei RTL ansehen, um sich damit von ihren eigenen Problemen abzulenken.
Saalfrank hat sich die Dauerkrise angeschaut, mit der Mutter gesprochen und gesagt, dass sie das dem Jugendamt melden müsse, wenn sie es nicht selbst tue. Die Mutter hat sich dazu entschlossen, es selbst zu melden. Sie hat angerufen und um einen baldigen Termin gebeten, was zweimal (offenbar aus Zeitgründen) abgelehnt wurde. Erst als RTL mit dem Jugendamt in Kontakt trat, wurde kurzfristig ein Gespräch vereinbart und beschlossen, den Sohn vorübergehend in eine Pflegefamilie zu geben, mit dem Einverständnis der Mutter, die sich im Gespräch mit Saalfrank, so schien es, erstmals richtig bewusst machte, wie falsch das ist, was sie ihrem Sohn antut, und woher das womöglich kommt, nämlich aus ihrer eigenen Kindheit, in der sie selbst misshandelt wurde.
Das Erstaunliche ist, wie ich finde, dass sich die Mutter, die bereits wusste, dass sie sich falsch verhält, mit ihrem Problem nicht an Freunde gewandt hat oder an die bekannten Institutionen, um zu vermeiden, dass die Situation weiter eskaliert. Sie hat sich dort gemeldet, wo ihrer Meinung am ehesten Hilfe zu erwarten war. Ans Fernsehen.
Ich glaube, das ist keine Ausnahme.
In „Helfer mit Herz“ besucht Vera Int-Veen Familien, die unverschuldet in schlimme Situationen geraten sind – durch den Tod eines Ehepartners, eine schlimme Krankheit oder andere Schicksalsschläge. Sie hilft ihnen, wieder auf die Beine zu kommen, eine neue Wohnung zu finden, die Kinder in den Fußballverein zu schicken und günstige Möbel zu besorgen. Und sie macht das nicht mit Geld, sondern indem sie andere um Hilfe bittet: Nachbarn, Vermieter, Vereine. Die Familien haben sie zwar nicht selbst gerufen, aber die Hinweise kommen von Bekannten, die der Ansicht sind, selbst nicht die Unterstützung liefern zu können, die notwendig wäre.
Ich habe mich vor zwei Jahren mal mit Int-Veen über ihre Sendung unterhalten (die damals noch als „Glück-Wunsch“ bei RTL 2 lief) und gefragt, ob sie wisse, warum die Familien, wenn sie doch so große Sorgen haben, nicht selbst bei anderen um Hilfe gebeten haben. Weil sie sich dafür schämten, dass es ihnen so schlecht geht, hat Int-Veen gesagt.
Ist das nicht komisch? Dass sich Menschen, wenn sie Probleme haben, nicht trauen, in ihrem Umfeld nach einer Lösung zu suchen und sich stattdessen ans Fernsehen wenden? Weil das Vertrauen in Protagonisten wie Katia Saalfrank oder RTL-Schuldnerberater Peter Zwegat inzwischen größer ist als in staatliche Organisationen, oder die Scham zu groß, vor anderen zuzugeben, dass man es alleine nicht mehr schafft? Und ist es nicht absurd, dass diese Scham mit einem Mal nicht mehr da ist, wenn das Kamerateam im Wohnzimmer steht und nachher ein paar Millionen Menschen zusehen?
Die Mutter, um die es gestern in der „Super Nanny“ ging, war nachher noch mit Katia Saalfrank bei „stern tv“ zu Gast, hat offen über ihre Probleme und die Situation mit ihrem Sohn gesprochen, und am Ende des Gesprächs gefragt:
„Darf ich noch was sagen? Ich wollte diesen Weg gehen, dass andere auch diesen Weg gehen, sich Hilfe zu suchen und nicht wie ich die Tür zumachen und halt nix sagen und da enden, wo ich bin.“
Das Fernsehen scheint in unserer Gesellschaft eine Funktion übernommen zu haben, der wir uns noch gar nicht richtig bewusst geworden sind. Für viele ist es der letzte Ausweg, um mit ihren Problemen fertig zu werden. Ausgerechnet das Fernsehen, dass ja seine Helfersendungen nicht aus Gemeinnützigkeit sendet, sondern um damit ein größtmögliches Publikum zu erreichen und Geld zu verdienen. Das kann man schlimm finden. Oder sich fragen, ob es nicht viel bedenklicher ist, dass ein solches Vertrauen nicht denen entgegen gebracht wird, die eigentlich dafür da sein müssten.
Nachtrag, 16.35 Uhr: Im Blog „Weltkriese“ schreibt „Darwin“ über Gründe, sich mit seinen Problemen ans Fernsehen zu wenden:
„Wie es dazu kommt, dass nun 80 Millionen Bürger zusehen können, wie sie erbost zum Jugendamt geht und ihren Jungen in eine Pflegefamilie unterbringt, ist eigentlich relativ leicht zu beantworten: RTL bietet seinen Kandidaten Geld und dabei werden gerade die Menschen angesprochen, die es bitternötig haben.“
Ich habe beim Sender nachgefragt, der bestätigt, dass die Protagonisten eine branchenübliche Aufwandsentschädigung bekommen, die „wenige hundert Euro“ betrage. Das mag, um „Darwins“ Theorie zu folgen, für alle, „die es bitternötig haben“, viel sein. Aber reicht das, um seine Lebensgesichte einfach so ans Fernsehen zu verscherbeln?