Erinnert sich noch jemand an die Zeit, als RTL mal „Schmuddelsender“ war, weil Hugo Egon Balder dort eine harmlose Erotikshow moderierte? Und daran, dass RTL 2 in der Erinnerung der meisten Zuschauer noch immer einer ist, weil dort vor Jahren mal haufenweise Ballermann-Reportagen liefen? Komisch, dass Pro Sieben mit seiner Busenfixierung von diesem Image bisher verschont blieb.
Und das, obwohl derzeit kaum eine Woche vergeht, in der am Nachmittag in den Dokusoaps „We are Family“ und „Lebe deinen Traum“ nicht ausführlich gezeigt wird, wie ganz normale Frauen unzufrieden mit ihrer Oberweite sind, sich vor ihrem Mann nicht mehr auszuziehen wollen (vor der Kamera schon eher) und erst wieder glücklich sind, wenn der Schönheitschirurg bei ihnen am Klinikbett steht, die Silikonkissen abtastet und sagt: „Ist aber hübsch geworden.“
Pro Sieben würde wahrscheinlich behaupten: Unserem Image macht das nix aus, weil wir unsere Protagonisten ernst nehmen. Wie ernst, das lassen bereits die Titel der Folgen vermuten:
„Kleine Brüste, schlechte Mutter“ (16.10.2008)
„Busen oder Baustelle“ (20.10.2008)
„Neuer Busen, neues Glück“ (24.10.2008)
„Meine Schrumpfbrust ruiniert meine Ehe“ (27.10.2008)
„Ich arbeite im Bordell für größere Brüste“ (26.11.2008)
„Bauch weg, Busen weg, Job her“ (26.11.2008)
„Ich bin hässlich und lass mich rundum operieren“ (1.12.2008)
„Punk, Piercing und Brust-OP“ (4.12.2008)
Und das ist bloß eine Zufallsauswahl der Sendungen, die ich mir für den F.A.S.-Text über „normale Menschen“ im Fernsehen aufgenommen habe.
Diese Woche geht‘s weiter:
„Ich will endlich große Brüste“, (9.12.2008)
„Mein dicker Po muss weg“ (10.12.2008) (ein neuer Trend?)
„Ein Traumbusen für den Traummann“ (11.12.2008)
Scheint ja ein ungeheurer Trend zu sein, dieses Operieren – auch wenn das nicht ganz zu den Statistiken der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland (GÄCD) passt. Und Pro Sieben kann sich nebenbei ein nettes Taschengeld dazu verdienen: In den Brust-OP-Themensendungen verweist der Sender regelmäßig auf Informationen im Teletext zu „Kosten und Chancen“. Von Risiken ist seltener die Rede.
Screenshots: Pro Sieben
Wer tatsächlich im Teletext nachsieht, wird allerdings auf ein kostenpflichtiges Angebot verwiesen:
Der Fax-Abruf dieser Informationen kostet also 1,39 Euro pro Minute, und um sechs simple Textseiten zu empfangen hält der Pro-Sieben-Dienstleister seinen Kunden minutenlang in der Leitung. Was dann für geschätzte acht Euro vor einem liegt, ist zum Teil banal, zum Teil ärgerlich. Im „fax:info“ steht gleich an erster Stelle:
„Schönheitsoperationen sind durchaus umstritten. Aber immerhin legen sich jährlich rund 500.000 Deutsche unters Messer, um kleine oder größere Fehler der Natur korrigieren zu lassen. Tendenz steigend.“
Die GÄCD spricht von „130.000 Schönheits-Operationen durch Mitglieder der GÄCD insgesamt, zusätzlich 105.500 Faltenbehandlungen“. Ihr Generalsekretär Dr. Matthias Gensior sagt in der (oben schon mal verlinkten) Meldung vom 4. September 2008:
„Wir beobachten insgesamt eine Stagnation: Im Vergleich zu den Vorjahren haben sich die Eingriffzahlen bei Frauen und Männern nicht wesentlich verändert. (…) Ein deutlicher Anstieg der Gesamteingriffzahlen in Deutschland ist absolut nicht zu erkennen. Auch, wenn in der Öffentlichkeit mittlerweile horrend hohe Eingriffzahlen kursieren.“
Über Brust-Operationen steht in der „fax:info“ nichts, das regelmäßige Zuschauer der Dokusoaps nicht schon wüssten, und unter „Risiken und Nebenwirkungen“ kommt der Begriff „Vollnarkose“ gar nicht erst vor. Dafür können Interessenten im Folgenden auch alles über Nasenkorrekturen, Faltenauffüllung und Fettabsaugung erfahren. Und bekommen einen wertvollen Tipp:
„Für eine Schönheitsoperation müssen Sie tief in die Tasche greifen. Es sei denn, Sie begeben sich ins Ausland, vorzugsweise nach Osteuropa.“
Mehr zum Thema „Fernsehen und Realität“ (und vielleicht auch zu Pro Sieben und den Brust-OPs) morgen im Fernsehblog.
Oh, ich glaube garnicht, dass...
Oh, ich glaube garnicht, dass das Image von Pro7 unangetastet bleibt. Jedenfalls beobachte ich in meinem Umfeld, dass der Sender zunehmend schlechter wegkommt. Das sind jetzt auch nicht unbedingt „Ich habe seit Jahren keinen Fernseher mehr!“-Langeweiler, sondern durchaus interessierte Zuschauer.
Die Sendungen eigenen sich aber in der Tat nicht so für den Witz zwischendurch wie die Ballermann-Reportagen früher auf RTL2, sondern sind wirklich eher Aufreger. Es wird anders wahrgenommen, aber nicht besser.