Eigentlich seien die Aufnahmen aus den Castings „geheim und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“, erklärte Moderatorin Aleksandra Bechtel in der „Big Brother“-Auftaktshow am Montagabend, „aber: um [Kandidatin] Micaela besser zu erklären, haben wir jetzt mal einen kleinen Ausschnitt für Sie vorbereitet“. Mit der Einblendung „Original Casting-Material“ in der Bildschirmecke lief anschließend ein Video, in dem Micaela (die sich bereits von bild.de bei ihrer Brust-OP begleiten ließ) ihre Lebenskurve auf einem Flipchart aufzeichnen und dabei erläutern sollte, welches die einschneidensten Erfahrungen in ihrem Leben gewesen seien. An einem Punkt stockt die 26-Jährige und sagt mit tränenerstickter Stimme, dass sie eigentlich alles habe „außer Freunden, außer einem Freund“:
„Ich hab eigentlich gar nichts – und das find ich total schlimm. Ich hab noch nie darüber geredet, weil es einfach keinen interessiert. Deshalb will ich auch gerne ins Haus gehen, weil ich einfach mal normale Menschen um mich rum haben möchte. Weil mich eh keiner vermissen wird. Deswegen.“
Screenshot: RTL 2
Zuvor hatte Bechtel bereits erklärt, dass keiner von Micaelas Freunden ins Studio kommen wollte, um sich interviewen zu lassen, während alle anderen Kandidaten einen ihnen nahe stehenden Menschen mitgebracht hatten (obwohl im Beitrag davor noch eine „beste Freundin“ mit Micaela im Café saß und angeregt plauderte). „Irgendwie traurig“, sagte „Big Brother“-Verstehfrau Erika Berger. „Das ist ein schlimmes Gefühl.“
Ja, schlimm. Und irgendwie unglaubwürdig.
Mag sein, dass man der jungen Frau damit Unrecht tut. Womöglich hat sie wirklich so wenige Freunde, fühlt sich von allein gelassen und sehnt sich danach, geliebt zu werden. Es kann aber auch sein, dass sie einfach nur ins Fernsehen will. Wer würde sonst schon auf die Idee kommen, bei „Big Brother“ auf „normale Menschen“ zu treffen? Nur für den Fall, dass Sie’s verpasst haben, wollen wir kurz zusammenfassen, welche Mitbewohner Micaela seit Montag hat.
Da ist Cora, 20, die über sich erzählt, sie sei „selbstständig in der Erotikbranche“ tätig, aber zunächst verschweigt, dass man sie auf Wunsch im Internet bestellen kann, um mit ihr Sex zu haben, damit sie das nachher als Video verkaufen kann. „Wenn ich in eine Gruppe von Männern komm, stört es mich nicht, wenn ich erstmal aufs Äußere reduziert werde“, sagt sie. Kristina, 23, findet ihren Po und ihre Beine zu dick, hat sich aber vor dem Einzug bei „BB“ erstmal die Brust vergrößern lassen, immerhin hat das mit der Nasen-OP ja schon so gut geklappt, obwohl ihre Mutter meint, sie solle sich besser „Gehirnmasse reinspritzen“ lassen.
Pisei, 18, ist Fotomodel, hat sich nach bisherigem Kenntnisstand nicht operieren lassen, legt aber ebenfalls Wert auf ein brustbetontes Äußeres, einfach „um zu zeigen: Du bist etwas wert und viele gucken hinter dir her“. Und dann ist da noch Iris, mit ihren 42 Jahren die „Muddi“, die ihre eigene Kneipe mit dem schönen Namen „Im Bett“ betreibt, in der es einen Likör zu trinken gibt, der „F*cken“ heißt. Iris‘ Tochter Daniela ist nicht ins Haus gezogen, weil sie gerade an ihrer Karriere als (Nackt-)Model feilt. Daniela ist derzeit in der Vox-Auswanderer-Sendung „Goodbye Deutschland“ zu sehen ist, wo sie – so ein Zufall – auf Micaela traf, die zu ihrer Erzrivalin wurde, weil Micaela sich auf Messen ebenfalls sehr unangezogen fotografieren lässt, auch schon bei „Germany’s Next Topmodel“ dabei war und sich bei „taff“ als „Boxenluder“ bewarb.
Alle Kandidatinnen hatten nichts dagegen, sich für die von RTL 2 produzierten Filmchen, in denen sie vorgestellt werden, komplett auszuziehen. Gehört für die meisten ja eh zur täglichen Arbeit.
Männer gibt es auch im Haus, aber gegen die Normalität der Damen kommen die meisten nicht an. (Und einer hat sich ja auch schon wieder verabschiedet, weil er sich nicht mit der HIV-Erkrankung seiner Mitbewohner beschäftigen wollte – aber, ach, lesen Sie’s halt selbst). Außer vielleicht der 19-Jährige Daniel, der sich nicht zum ersten Mal beworben hat, weil „Big Brother“ sein „Traum“ ist, der sich Frauen, die er in der Disco kennenlernt, am liebsten mit seinem Freund Pepsi teilt, und über den in Internetforen und bei Twitter geschrieben wird, er habe bereits eine kleine Karriere als Laiendarsteller bei „Richter Alexander Hold“ und „Familien im Brennpunkt“ hinter sich, nachdem ihn die Lust auf die Schule verließ.
Es ist eine ganz erstaunliche Truppe, die Endemol da für die zehnte Staffel von „Big Brother“ zusammengecastet hat: Menschen, die nicht mal mehr fürs, sondern teilweise schon im Fernsehen leben, und für die schon ganz genau vorgeplant sein dürfte, welche Konflikte sie in den kommenden Wochen durchlaufen sollen. Was wird das für ein Spaß, wenn Micaela irgendwann auf die Mama ihrer Erzrivalin trifft!
Dem Medienpromimagazin „clap“ hat RTL-2-Unterhaltungschefin Julia Nicolas erzählt, für sie sei „Big Brother“ ein „Reality-Programm mit echten Menschen“ – wobei mit „echt“ in diesem Falle allenfalls gemeint sein kann, dass alle aus Fleisch und Blut sind und nicht irgendwelche Außerirdischen oder Formwandler. Für die Programmmacher im Privatfernsehen ist dieses „echt“ eine Art Qualitätskriterium, das dem Publikum signalisieren soll: Wir sind ganz nah dran an der Realität. An welcher, wird selten dazu gesagt.
Aber wahrscheinlich ist die eigentliche Begabung der „Big Brother“-Macher sowieso, all die verlorenen Seelen in diesem Land aufzuspüren, die man auf keinen Fall ins Fernsehen lassen sollte. Um dann mit ihnen genau das Gegenteil zu unternehmen.
Legi intellexi condemnavi....
Legi intellexi condemnavi. Oder habe ich Ihren Artikel misverstanden? Ich hielt mich doch eher mit Meinungen zurück, Sie beschreiben die Unglaubwürdigkeit der Kandidaten und die etwas einfache Denkweise. Wahrscheinlich liest keiner von denen die FAZ im BB Haus oder gar das Feuilleton.
@BlackJack66: Hab das ja auch...
@BlackJack66: Hab das ja auch gar nicht unmittelbar auf Sie bezogen, sondern versucht, Weeschnittchen meine generelle Skepsis zu erklären.
Es ist doch geradezu...
Es ist doch geradezu beruhigend, dass das Trash-Fernsehen sich zunehmend zu einem geschlossenen Recycling-System entwickelt. Wenn immer die gleichen Zuschauer immer die gleichen Akteure beglotzen, hält sich der Schaden in Grenzen. Es ist ja nichts Neues, dass auch niedrige Instinkte irgendwie befriedigt werden wollen. Früher gab es dazu Etablissements, die gut davon lebten, dass angeblich niemand dort hinging (und es gibt sie immer noch). Inzwischen gibt es eben auch elektronische Bedürfnisbefriedigungsanstalten. Der Unterschied ist nur der leichtere Zutritt in diese virtuelle Welt mittels des Fernsehers. Und noch einen Unterschied gibt es. Ein Puff war und ist ein Puff und gibt auch nicht vor, etwas anderes zu sein. Diese Fernsehkaschemmen a´la RTL2 wollen auch noch ernst genommen werden. Die Puffmutter war in der Stadt persona non grata, die Geschäftsführerin irgendeines Schmuddelsenders wird für ihre wirtschaftlichen Erfolge gefeiert und sieht sich als „Promi“. Pecunia non olet – die einzige Maxime, die heute noch zählt.
@ Peer Schader
Ihre Skepsis...
@ Peer Schader
Ihre Skepsis ist ja durchaus verständlich. Allerdings ist es auch die sogenannte Qualitätspresse – die FAZ ist da keine Ausnahme – die ihre Leser mit ausführlicher Berichterstattung über diverse Spektakel und Sub-Boulevard-Themen versorgt (nervt) und diesen dadurch zusätzliche Relevanz zumißt. Wenn die Lektüre der (Online-) Tageszeitung zum Slalomlauf wird um Dinge herum, die man eigentlich nicht wissen will, dann ist der gelegentliche Tritt gegen die Torstangen doch ebenfalls verständlich, oder nicht?
<p>Gut das ich nach der...
Gut das ich nach der zweiten Staffel aufgehört habe zuzuschauen und mitzudenken.
@ute: Also bitte: Einigen wir...
@ute: Also bitte: Einigen wir uns darauf, dass es einen Unterschied zwischen purem Nacherzählen vermeintlicher Skandale und einordnender Reflektion gibt? Und: Slalom müssen Sie nun wirklich nicht laufen, um dieses winzige Blog zu vermeiden.
Ich hab auch keinen Fernseher...
Ich hab auch keinen Fernseher mehr und schaue mir wichtige Sendungen mit und bei Freunden an.
Aber auf dieses Blog möchte ich nicht verzichten, auch wenn ich die fast alle Sendungen nicht gesehen habe.
Aber ist es nicht bei den meisten Kritiken zum Fernsehen so, dass man den Inhalt nicht selbst gesehen hat, weil man gerade arbeitete oder was anderes schaute? Ich freu mich auf weitere Artikel.
Eine Meinung zu einem Programm...
Eine Meinung zu einem Programm kann man sich nur bilden, wenn man es auch gesehen hat.
Man wird ja auch nicht eine Meinung zu einem Roman haben, bloß weil man die Kritik eines bekannten Kritikers gelesen hat.
@Peer Schader: Ich bin Ihnen...
@Peer Schader: Ich bin Ihnen und Stefan Niggemeier auf jeden Fall sehr dankbar, dass es dieses Blog gibt. Ich fahre lediglich Slalom, wenn ich mir die Berichterstattung anderer Medien zu verschiedenen Sendungen angucken muss – wozu ich leider beruflich angehalten bin. Dies ist auf jeden Fall der geradeste Weg zu amüsanter TV-Berichterstattung! Gern auch in der FAS wieder mehr! Auf der Medien-Seite der FAZ wird es wohl nie etwas in der Form geben, oder?
@J.S.
Im Grundsatz haben Sie...
@J.S.
Im Grundsatz haben Sie recht. Natürlich kann man sich über eine Sendung nur dann ein Urteil erlauben, wenn man sie gesehen hat. Hier geht es aber um etwas anderes. Ich muss auch keine Kuhsch***e probieren, um zu behaupten, dass sie nicht schmeckt. Auch da gibt es Leute, die das in Zweifel ziehen, denn Millionen von Fliegen könnten sich nicht irren.